Mittlerweile hatte sich Finsternis über das Land gelegt. Sie flogen durch einen Vorhang dichter Flocken und Hefeyd konnte nicht einmal bis zum Kopf des Flyres sehen. Er verließ sich auf Nialls Orientierungssinn und bat ihn, so dicht wie möglich über dem Boden zu fliegen, um die eisige Kälte in den höheren Luftschichten zu vermeiden. Der Flyr folgte zunächst dem Lauf des Nairn bis zum Dorf der Heilerinnen am Dinassee. Als sie es überflogen, fragte Hefeyd sich, was seine Mutter wohl gerade tat. Sie lebte im Dorf und arbeitete als Heilerin im Haus der Kranken. Wahrscheinlich sitzt sie mit Neala beim Abendessen, dachte er und fühlte gleichzeitig Hunger und Sehnsucht.
Der eisige Wind nahm zu und Hefeyd zitterte vor Kälte. Er zog den wehenden Umhang fester um sich und sprach leise die Worte des Zaubers. Sofort durchströmte ihn ein Gefühl der Wärme. Der Schneefall ließ ein wenig nach und die dunklen Umrisse der Ausläufer des Hallgebirges wurden sichtbar. Der Flyr schwang sich in größere Höhen, um den dunklen engen Schluchten zu entgehen, in denen der Wind heulte. Das Tosen der Stürme, das sich in den Tälern und Schluchten fing, sich durch Spalten und Höhlen drängte, an die steilen Berghänge brandete und von den schroffen Felswänden widerhallte, hatte dem Gebirge seinen Namen gegeben. Manchmal mischten sich Stimmen in einer fremden Sprache darunter, Schreie, Schlachtrufe und Klagelaute. Auch das Wiehern von Pferden, Kampfgetümmel und das Aufeinanderschlagen von Schwertern erschallte. Dort hatte sich in der Alten Zeit das Schicksal von Armor entschieden.
Durch den beginnenden Sturm zu fliegen war immer noch besser, als in die Festung zurückzukehren, dachte Hefeyd zornig, als seine Erinnerung zu dem Gespräch wanderte, das er am Morgen mit seinem Vater dort geführt hatte. Der hatte seine Verspätung kritisiert und gedroht, Niall auszumustern, da er zu langsam fliege.
Diese Worte gingen seinem Vater oft und leicht von den Lippen. Hefeyd wusste natürlich, dass die älteren Flyre auf die entlegene Insel Dughain an den Grenzen der Welt gebracht wurden, wo sie ihren Lebensabend verbrachten, doch war dieser Zeitpunkt für Niall noch lange nicht gekommen: Er war erst fünfhundertzwanzig Winter alt und immer noch schnell genug, schneller als manche jüngere Artgenossen. Hefeyd wusste um den wahren Grund für die Worte seines Vaters: die Freundschaft, die ihn mit Niall verband. In den Augen seines Vaters hatten Tiere keinen Wert und wurden mit unerbittlicher Härte behandelt. Dies erwartete er auch von seinem Sohn, doch Hefeyd war von anderer Gesinnung. Niall war sein Freund, außer Artan sein einziger wirklicher Freund seit Brägans Fortgang. Er würde sich etwas einfallen lassen müssen. Noch nie hatte er sich einer Anweisung seines Vaters widersetzt, doch eine Trennung von Niall würde er nicht hinnehmen.
Ohne ein weiteres Wort über den Flyr zu verlieren, hatte sein Vater ihm den Auftrag gegeben, in Cyfor bei verschiedenen Kaufleuten Abgaben einzutreiben und die Schiffslisten zu prüfen. Damit war das Gespräch beendet gewesen.
„Was grämt dich, Hefeyd?“ Nialls Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Der Flyr drängte schon den ganzen Tag auf eine Erklärung.
„Mein Vater möchte dich nach Dughain bringen. Aus diesem Grund werden wir nicht mehr zur Festung zurückkehren.“ Diesen Entschluss hatte er während des Sprechens der Worte gefasst.
Der Flyr verlangsamte den Rhythmus seiner Flügelschläge und drehte den Kopf leicht nach hinten. „Wenn dein Vater dies so entschieden hat, werde ich dem nicht entgehen können. Ich kann mich nicht verstecken, er kennt jeden Winkel auf Thuroth und er würde mich finden. Du weißt, was das bedeutet. Denke nur an Fylu.“
„Ich werde nicht zulassen, dass er uns trennt. Ich habe meinem Vater stets treu gedient, obwohl das, was ich in den letzten Monaten über seine Arbeit erfahren habe, mein Herz mit Zweifeln gefüllt hat. Er ist einer der Mächtigsten der Duin Madainn und sollte seine Kräfte einsetzen, um Wohlstand und Zufriedenheit zu schaffen. Stattdessen versinkt Thuroth in Armut, Angst und Trostlosigkeit.“
Hefeyd fühlte, dass die Zeit gekommen war, um seinem Vater Fragen zu stellen, und dieser Gedanke ließ ihn schaudern. „Ich bin ihm treu geblieben, obwohl Brägan sich mit vielen anderen gegen ihn gestellt und mich um Unterstützung gebeten hat. Doch wenn mein Vater dich fortbringt, wird er mich verlieren.“
„Das sind starke Worte, mein Freund. Du weißt, dass er deinen Bruder töten will, wenn er ihn findet. So könnte es dir auch ergehen.“
„Sei unbesorgt. Niemals würde er Brägan etwas antun!“ Als sich sein Bruder nach Abschluss seiner Ausbildung offen gegen seinen Vater gestellt hatte, hatte dieser ihn zum Feind Thuroths erklärt und seine Magier ausgeschickt, um ihn gefangen zu nehmen. Seitdem war Brägan wie vom Erdboden verschluckt, doch sein Vater hatte die Suche nach ihm nie aufgegeben. Hefeyd und seine Mutter Siana hatten Brägan seit vier Wintern nicht mehr gesehen, er schickte lediglich ab und zu eine Kurierlibelle, um ihnen mitzuteilen, dass es ihm gut ging. Es wurde gemunkelt, dass er sich mit seinen Anhängern ins Hallgebirge zurückgezogen hatte.
Ausgerechnet über dem Nebeltal erfasste eine Windbö Niall und drückte ihn zur Seite. Der Sturm hatte an Kraft zugelegt und drohte sie gegen einen der unsichtbaren Berghänge zu schleudern. Sein Tosen wuchs zu einem unerträglichen Dröhnen und Hefeyd hielt sich die Ohren zu, um die darin wirbelnden Stimmen nicht zu hören.
„Ich kann nicht weiterfliegen!“, brüllte Niall.
Im Tal wollte Hefeyd nicht landen, er wusste um die Wirkung des Nebels. Er sah hinab und erahnte durch die Nebelfetzen den Fluss, der sich unter ihnen dunkel durch den Abgrund schlängelte.
„Überflieg das Nebeltal und lass uns am Ufer des Songran landen. Es gibt dort Höhlen, in denen wir Unterschlupf finden können.“
Nialls Flügel rauschten kraftvoll durch den Sturm, während ihn immer wieder Böen ergriffen und zur Seite wirbelten. Eine Felswand tauchte plötzlich aus den Schwaden auf, der Niall nur durch eine abrupte Drehung ausweichen konnte, die Hefeyd fast abgeworfen hätte. Endlich lag das Nebeltal hinter ihnen, der Flyr legte die Flügel an, schoss in die Tiefe und setzte neben dem Fluss auf den verschneiten Resten einer Straße auf, deren Pflastersteine nun zerbröckelt und verwittert waren, und die von verfallenen Lichthäuschen gesäumt war. Die alte Handelsstraße von Armor. Vor den Berghängen standen die dunklen Umrisse von Ruinen aus dickem Gestein, zerfallene Wände und zerbrochene Säulen, überwuchert von Efeu, das wie Finger aus dem Schnee ragte. Überbleibsel der Rasthäuser und Ställe.
Sie stapften auf den nächstgelegenen Berghang zu und fanden eine Höhle, die jedoch so niedrig war, dass Niall sich nicht an die Decke hängen konnte. So lehnte er sich an die Felswand und legte seine Flügel um Hefeyd, der sofort in einen tiefen Schlaf fiel.
9. Das Dorf der Heilerinnen
„Es will gut überlegt sein, an welchem Ort man einen Cridienbaum oder gar einen ganzen Wald von ihnen pflanzt. Die Bäume wachsen schnell und können nicht gefällt werden. Auch Feuer kann ihnen nichts anhaben. Wanderer sollten sie meiden, denn der Weg durch den Wald ist trügerisch und groß ist die Zahl derer, die aus dem Schlaf der Cridien nie mehr erwacht sind.“
Nuadas Erinnerungen
Festgehalten von Màdo
Vierhundert Winter nach Armor
Manù schnappte nach Luft, der Rucksack bohrte sich schmerzhaft in ihre Wirbelsäule. Feuchte Kälte kroch ihr in die Glieder. Sie wandte den Kopf zur Seite und stellte fest, dass sie im Schnee lag.
„Du siehst aus wie ein Käfer auf dem Rücken“, hörte sie Luc sagen und sah auf. Er stand über ihr und grinste sie an.
„Hilf mir hoch“, bat Manù und Luc reichte ihr die Hand. Als sie stand, schlug sie den Schnee von ihrer Kleidung und steckte das Reiseamulett in ihre Jeans. Sie schnallte den Rucksack los, zog ihre Winterjacke heraus und sah sich um. „Wo sind Jo und Motz?“
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