Motz erschien im Türrahmen, sein Gesicht verriet nichts über seine Gefühle. „Ich komme mit.“
Jo riss die Augen auf. „Wie bitte?“ Er wollte sie begleiten? Er, der nicht an Flüche und Zauber glaubte? Er geht davon aus, dass der Reisespruch nicht funktioniert.
„Ich auch“, ließ sich Lucs Stimme vernehmen.
Jo kniff die Augen zusammen, trat in die Küche und sah von Luc zu ihrem Bruder. „Ihr glaubt, der Zauber gelingt nicht, aber das Gegenteil kann der Fall sein. Und auf Thuroth könntet ihr euer Leben verlieren, nur um meines zu retten.“
„Das ist uns klar“, sagte Motz ruhig. „Wir haben den Reisespruch schon mit Manù geübt.“
Jo drehte sich zu ihrem Bruder. „Du warst die ganze Zeit gegen diese Reise. Wieso …?“
„Ich lasse dich nicht mit ihr alleine“, grummelte Motz und machte eine Kopfbewegung in Richtung der Wahrsagerin.
„Und Luc?“
„Er hat darauf bestanden, uns zu begleiten.“
Luc nickte.
„Ja, aber warum denn?“
„Es könnte ja sein, dass mir etwas an dir liegt.“ Er grinste.
Jo spürte, wie das Blut in ihre Wangen stieg. Sie senkte den Blick und setzte sich schweigend an den mit Croissants, Butter, Marmelade und Kaffee gedeckten Tisch. Sie konnte kaum glauben, dass Motz und Luc sie begleiten wollten. In das Gefühl der Erleichterung und Freude mischten sich Angst und Sorge. Ich würde mir nie verzeihen, wenn ihnen etwas zustößt .
„Bitte iss etwas“, hörte sie Großmutter sagen, doch sie verspürte keinen Appetit.
Alle, auch Manù, sahen angespannt aus und sprachen wenig. Nach dem Frühstück schulterten die vier ihre Rucksäcke, nachdem sie deren Inhalt nochmals kontrolliert hatten, steckten die Messer in die Scheiden am Gürtel – Motz steckte seines wie gewohnt in eine Scheide an der Wade – und begaben sich mit den Großeltern auf die Terrasse, als sie Melinda rufen hörten. Großvater lief zur Haustür und ließ sie hinein. Sie trug einen Brief in der Hand und reichte ihn Jo, nachdem sie Manù mit einem knappen Nicken begrüßt hatte.
„Nimm das mit, es wird euch helfen“, krächzte sie.
„Was ist das?“, fragte Jo überrascht.
„Es ist ein Brief von Judith an Mexx.“ Die Heilerin war außer Atem und Schweißperlen schimmerten auf ihrer Stirn.
„Von meiner Mutter?“, entfuhr es der Großmutter. „Warum hast du mir nie davon erzählt?“
Melinda seufzte. „Er ist nicht wirklich von Judith, sondern von mir, aber er soll den Eindruck erwecken, dass Judith ihn kurz vor ihrem Tod geschrieben hat.“
Jo runzelte die Stirn. „Was steht in dem Brief?“
„Dass Judith ihn mochte und ihm sein Verhalten auf dem Fest verziehen hat.“
„Was?“, rief Jo aufgebracht. Ihr war der Gedanke zuwider, dass Melinda einen Brief dieses Inhaltes gefälscht hatte. Immerhin trug Mexx die Schuld an Judiths Tod. Nur mühsam konnte sie sich beruhigen.
Melinda legte Jo ihre faltige Hand auf den Arm. „Vielleicht bringt der Brief Mexx dazu, den Fluch aufzuheben.“
„Einen Versuch ist es wert“, meinte Manù, nahm den Brief an sich und verbarg ihn unter ihrer Kleidung. Dann holte sie das Kettchen hervor. „Ich denke, es wird Zeit.“
Nachdem sie sich von den Großeltern und Melinda verabschiedet hatten, stellten sich Jo, Motz, Luc und Manù im Kreis auf. Jo und ihr Bruder wechselten einen langen Blick. Sie sah ihm an, wie unwohl er sich fühlte. Er, der nicht an Flüche glaubte und Übersinnliches für Hokuspokus hielt, stand hier an ihrer Seite, um eine Reise in eine andere Welt zu wagen und ihr Leben zu retten. Ein vages Gefühl ergriff sie und sie brauchte einen Moment, um zu erkennen, was es war: Dankbarkeit. Blinzelnd wandte sie den Kopf ab.
Das Licht der Morgensonne und das Kreischen der Möwen verblasste, während ihr Herz laut und schnell zu schlagen begann. Die Furcht hüpfte vor ihr auf den Steinfliesen. Auf ein Zeichen von Manù berührten die vier das Amulett mit jeweils einer Hand und begannen mit dem Sprechen der Formel.
„Esculton, venath, co ven dun
Dennon for an venen vin
An men portar o Thuroth
Vin an sul ca tempo eteriel
Dùn Righ min meto, nin esiton
Men prennon an là men liberon.“
Nichts geschah. Sie sagten den Spruch jetzt schon zum dritten Mal auf.
Es funktioniert nicht , dachte Jo verzweifelt.
Plötzlich wurden ihre Lider niedergedrückt, ein Wind strich um sie und hob sie empor. Schwerelosigkeit befiel sie und durch ihre Augenlider hindurch zuckten grelle Blitze. Erschrocken ließ sie die Kette los. Dann wurde es dunkel und still.
„Fels aus der Tiefe, höre meine Worte! Zauber lockten dich vor vieler Jahre Zeit. Doch ist der Augenblick deiner Erlösung noch nicht gekommen. Trage die Last der Inseln bis zu jenem Tage, an dem die Welt versinken will und mit ihr all der Menschen Klage.“
Der Aufprall presste Jo die Luft aus den Lungen. Keuchend riss sie die Augen auf und starrte in einen grauen, wolkenverhangenen Himmel, aus dem kleine Schneeflocken auf sie herabfielen. Eiskalter Wind fuhr ihr durch das Gesicht. Winter! Der Zauber hatte sie tatsächlich an einen anderen Ort gebracht. War dies Thuroth? Verwundert setzte sie sich auf, stützte ihre Hände im hellgrau schimmernden Schnee ab und rutschte auf die Knie. Ihr Bruder lag neben ihr und wandte ihr den Rücken zu. Sie sah sich um, aber von Manù und Luc war nichts zu sehen.
„Motz!“
Sie streifte den Rucksack von den Schultern und ließ ihn auf den Boden gleiten. Dann beugte sie sich über ihren Bruder und strich ihm über den Kopf. „Motz, was ist denn?“
Ihr Bruder regte sich nicht. Jos Blick fiel auf einen roten Fleck im Schnee. Erschrocken nahm sie Motz den Rucksack ab und drehte seinen Körper vorsichtig auf den Rücken. An der linken Schläfe klaffte eine Wunde, aus der Blut sickerte. Dort, wo Motz' Kopf gelegen hatte, entdeckte Jo einen spitzen, blutbefleckten Stein. Sie öffnete ihren Rucksack und holte ein Fläschchen Betaisodona hervor, aus dem sie einige Tropfen auf die Wunde gab. Motz zuckte nicht.
Missmutig ließ sie ihren Blick schweifen. Sie befanden sich auf einem kleinen Felsplateau in der Mitte eines steilen Berghanges. Um sie herum thronten majestätische Berge, deren Gipfel Hunderte von Metern in den Himmel ragten und sich in den Wolken verloren. Zerklüftete Felshänge, verschneite Schluchten und massige Gletscher zogen sich zu beiden Seiten bis zum Horizont. Im Tal weit unter ihnen wand sich ein Fluss wie eine silberne Schlange durch die verschneite Landschaft. Nicht weit von Jo entfernt sprang eine Gruppe Bergziegen mit seltsam verdrehten Hörnern durch den Schnee. Sie hob den Kopf und entdeckte im weiteren Verlauf des Berghangs einen verfallenen Turm. Vielleicht konnten sie dort Schutz vor Schnee und Kälte finden. In einiger Entfernung sah sie auf der anderen Seite des Tales einen weiteren Turm. Nach einer Ortschaft suchten ihre Augen vergebens.
Wo waren Luc und Manù? Sie rief mehrmals ihre Namen, erhielt jedoch keine Antwort. Die Kälte drang in ihre Glieder und sie nestelte mit klammen Fingern an den Rucksäcken, um die Winterjacken herauszuziehen. Sie schlüpfte in ihre Jacke und legte die von Motz über seinen Oberkörper. Dann ergriff sie ihren Rucksack und begann mit dem Aufstieg. Bald stellte sie fest, dass sich unter dem Schnee in den Fels gehauene Stufen befanden, die sie immer wieder stolpern ließen. Der Rucksack war schwer und sie geriet trotz der Kälte und des Windes, der ihr entgegenblies, ins Schwitzen. Ihr Atem ging schneller und formte kleine Wölkchen in der eisigen Luft. Als ihr Knöchel zu schmerzen begann, hielt sie inne, blickte zurück und sah den Körper ihres Bruders durch die Schneeflocken hindurch auf dem Plateau liegen.
Endlich erreichte sie den Turm. Die Hälfte der Front war eingestürzt, die steinernen Trümmer lagen vor ihr im Schnee, doch der Rest des Gebäudes einschließlich des Dachs schien intakt zu sein. Vorsichtig trat sie über die Türschwelle. An der linken Wand führten Stufen in die obere Etage. Das Erdgeschoss bestand aus einem großen Raum, dessen Boden von einer dicken Schneeschicht bedeckt war. Er war leer bis auf einen Kamin, in dem sich jedoch kein Holz befand. Jo entdeckte nichts, was sich hätte verbrennen lassen können.
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