1 ...7 8 9 11 12 13 ...28 „Ich habe gestern Nacht versucht, in deine Zukunft zu schauen, doch es ist mir nicht gelungen.“
Jo zog die Augenbrauen hoch. „Du konntest nicht sehen, ob das Buch verflucht ist?“
Manù presste die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf. „Wir können nur hoffen, dass sich in den Aufzeichnungen meines Großvaters ein Anhaltspunkt dafür findet, wie wir dies feststellen können. In meinen Büchern steht nichts über Flüche.“
Jo nickte, ohne Manù anzusehen, ergriff einen Stapel Papier und zog sich auf das Sofa zurück.
Gegen Mittag kehrten Motz und Luc in bester Laune zurück. Die Wohnung, die sie sich an diesem Morgen angeschaut hatten, entsprach genau ihren Vorstellungen und sie hatten sich mit dem Vermieter auf einen vernünftigen Preis einigen können. Motz knuffte Jo in die Seite. „Freust du dich wenigstens ein bisschen für mich?“
Jo schwieg. Wie konnte er erwarten, dass sie sich freute?
„Nein, natürlich nicht. Der Fluch, ich vergaß.“ Seine Stimme triefte vor Ironie.
Sie sah auf, verletzt und wütend zugleich, doch er hatte sich schon abgewandt. Widerwillig ergriff sie einen der Papierstapel und öffnete das ihn umgebende Band. Ihr Blick fiel auf einen mit roter Tinte beschriebenen Pergamentbogen. Darin äußerte Mádo sein Missfallen am Verhalten einiger Mitglieder der Vereinigung, die sich der Schwarzen Magie zugewandt hatten und gefährliche Experimente durchführten. Er hatte sie mehrfach aufgefordert, davon abzulassen, und war dann aus der Vereinigung ausgetreten, um sich ganz seinem Buch und seinen Patienten zu widmen. Jo erzählte den anderen davon.
Luc nahm ihr das Pergament aus der Hand und überflog es. „Er hat hier nicht einmal die Namen der anderen Mitglieder genannt, sondern sie nur mit Anfangsbuchstaben bezeichnet. Es würde mich interessieren, um wen es sich dabei gehandelt hat.“
„Vielleicht haben sie etwas mit Mádos Verschwinden zu tun“, mutmaßte Jo und erhob sich, um sich zu strecken.
„Möglich“, erwiderte Luc gähnend. „Steht das Haus von Mexx eigentlich noch?“
Manù nickte. „Ja. Es ist nicht bewohnt, obwohl das nicht zu verstehen ist. Normalerweise kümmert sich die Stadt um Häuser, die lange leer stehen, und zwingt den Eigentümer, es entweder selbst zu nutzen oder es zu vermieten. Aber hier scheint der Eigentümer nicht auffindbar zu sein und vor einer Enteignung schreckte die Stadt bisher zurück, aus welchen Gründen auch immer. Es ist mittlerweile in keinem guten Zustand mehr, aber damals war es sicherlich ein beeindruckender Palais.“
Jos Herz begann schneller zu schlagen. An das Haus hatte sie gar nicht mehr gedacht. „Wer ist denn der Eigentümer?“
Manù stand auf und ging zu dem kleinen Sekretär, der hinter der Tür stand, öffnete die Schublade und zog ein Blatt heraus. „Als eure Großeltern euer Kommen ankündigten, habe ich eine Kopie des Grundbuchauszuges besorgt. Danach heißt der Eigentümer Mexx Manuél.“
Das war der Name, den Jo im Internet gefunden hatte. Aber er hatte im Jahr 1850 dort gelebt. „Steht dort auch, wann er Eigentümer wurde?“, fragte sie.
Manù schaute auf das Dokument. „Ja, 1845. Dann kann es sich nicht um unseren Mexx handeln.“ Sie setzte sich mit dem Papier in der Hand in einen der Sessel. „Als Judith damals starb, nahm Melinda Kontakt mit der Schwester meines Großvaters auf, um sie zu warnen. Sie vermutete, dass Mexx Mádo getötet hatte, und befürchtete, dass auch Mádos Schwester und seine Tochter in Gefahr sein könnten. Meine Mutter erzählte mir erst kurz vor ihrem Tod davon. Ich war neugierig geworden und suchte Melinda auf, um mehr darüber zu erfahren. Sie erzählte mir Judiths traurige Geschichte und ich gewann einen Eindruck von Mexx' Persönlichkeit. Deshalb verwarf ich den Gedanken, in sein Haus einzudringen.“
„Du warst also noch nicht dort?“ Lucs Stimme klang überrascht.
„Ich habe es nur von außen gesehen. Es ist ein unheilvoller Ort.“ Sie erhob sich und legte den Grundbuchauszug in die Schublade des Sekretärs zurück.
„Aber jetzt sind wir zu viert und könnten es uns doch einmal ansehen, oder?“ Luc schaute in die Runde. In seinen Augen funkelte es.
Motz runzelte die Stirn und machte eine abwehrende Handbewegung. „Das ist Hausfriedensbruch. Ich habe keine Lust, mich strafbar zu machen. Es könnte auch gefährlich sein. Das Haus ist alt und ...“
„Ach, komm schon.“ Luc beugte sich nach vorn und knuffte seinen Freund in den Oberarm. „Ich wüsste nicht, wieso das gefährlich sein sollte. Wenn Mexx noch lebt, ist er jetzt über hundert.“ Er schürzte die Lippen. „Er könnte uns allerdings mit dem Rollator erschlagen.“
Motz' rechtes Ohr färbte sich dunkelrot. „Ich möchte dort nicht erwischt werden.“
Luc grunzte abfällig und schaute zu Manù, die die Diskussion schweigend verfolgt hatte. Sie starrte auf die Dokumente auf dem Holzboden.
„Das Manuskript könnte sich dort befinden“, drängte Luc.
„Ich möchte mir das Haus ansehen“, sagte Jo bestimmt. „Vielleicht hilft uns das weiter.“
Manù nickte widerstrebend. „Bei Tagesanbruch geht es los.“ Jo und Luc stimmten zu, während Motz schweigend vor sich hin starrte.
Am nächsten Morgen regnete es in Strömen und Motz erklärte sich bereit, Jo, Luc und Manù mit seinem Auto zur Rue de Rivoli 46 zu fahren. Mexx' Haus stand etwas zurückversetzt und passte mit seiner schmutzig grauen, vernachlässigten Fassade nicht zu den eleganten und gepflegten Nachbarhäusern. Die Fenster waren von schwarzen Schlagläden verdeckt und an die breite Haustür waren Bretter gelehnt, die vielleicht einmal angenagelt gewesen waren, um den Eintritt zu verwehren. Jetzt ließen sie sich problemlos zur Seite schieben. Wahrscheinlich hatte sich schon einmal jemand Zutritt zum Haus verschafft. Manù legte die Hand auf die Klinke und drückte die Türe auf, die mit einem Quietschen nachgab.
„Ein Spukhaus eben“, flüsterte Luc Jo ins Ohr, woraufhin sie zusammenzuckte.
Motz, der zunächst vor dem Haus auf sie hatte warten wollen, folgte ihnen hinein, vielleicht aus Neugier oder wegen des schlechten Wetters. Drinnen empfing sie bis auf einige schwache Streifen Tageslicht, die durch die Ritzen der Schlagläden ins Haus drangen, tiefe Dunkelheit. Luc betätigte den Lichtschalter in der Diele, aber wie zu erwarten war, blieb es dunkel, und er schaltete die Taschenlampe ein. Vor ihnen führte eine Treppe ins Obergeschoss, rechts daneben befand sich ein schmaler Flur, während zur Linken eine gläserne Schiebetür den Blick auf einen Saal mit drei Kaminen freigab. Hier fand das Fest statt , dachte Jo und schob die Türe zur Seite.
Zwei Tische und einige Stühle standen mitten im Raum, von einer dicken Staubschicht überzogen. Helle Flecken an den Wänden, von denen die graue Tapete abblätterte, ließen erahnen, dass dort einmal Gemälde gehangen hatten. Luc stocherte im Kamin herum, doch es gab nur die Überreste lange erloschener Feuer. An der Decke hing ein gewaltiger Kronleuchter und Jo konnte sich gut vorstellen, wie dieser Raum vor vielen Jahren festlich geschmückt die Kulisse für ein rauschendes Fest abgegeben hatte. Motz hatte inzwischen die hinteren Räume des Erdgeschosses inspiziert, wo sich die Küche und die Vorratsräume befanden, aber er hatte nichts Erwähnenswertes entdeckt.
Sie verließen den Festsaal, stiegen die Treppe hinauf und betraten das erste Zimmer auf der rechten Seite. Jo drehte sich sofort um. Tatsächlich, dort hing ein gewaltiger, verblichener Wandteppich, der einen weit verzweigten Stammbaum zeigte.
„Hier hat er sie verflucht“, flüsterte sie. Angst, Wut und Verzweiflung umwehten sie. Alte Gefühle, Judiths Gefühle. Ihr wurde schwindelig und sie lehnte sich mit dem Rücken gegen die Wand.
Motz und Luc untersuchten derweil den Schreibtisch in der Mitte des Raumes, während Manù sich die Bücher im Wandregal ansah.
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