Manù schloss die Haustür hinter ihnen und verschwand mit den Worten „Stellt euer Gepäck einfach irgendwo ab“ in einem Raum zur Linken, aus dem kurz darauf das Klappern von Geschirr erklang.
Leichter gesagt als getan , dachte Jo, während sie ihren Blick über die den Flur füllenden Regale, Tischchen und Hocker gleiten ließ, die vor Büchern, Heften, Broschüren, Papieren und Landkarten überquollen. Die Magie der Kelten, Das Handbuch der Runen, Zukunftsdeutung, Zeitreisen las sie auf einigen der Buchrücken. Sie quetschte ihren Rucksack zwischen einen vom Fußboden bis zu ihrer Hüfte reichenden Stapel Bücher und eine Truhe mit Folianten und folgte dem Geruch von frisch gebackenem Brot und Basilikum in die Küche, wo Manù gerade eine Schüssel mit Nudeln auf den Tisch stellte, der mit Tellern, Besteck, Gläsern und einer Karaffe mit Wasser gedeckt war.
„Setzt euch und greift zu.“
Sie nahmen Platz, nachdem sie sich vorgestellt und die Stühle von Büchern und Zeitschriften befreit hatten.
Manù lächelte schief. „Ich komme einfach nicht dazu, aufzuräumen.“
Sie machte einen freundlichen Eindruck, doch war in ihren Augen etwas, was nicht dazu passen wollte. Sie waren dunkel und unergründlich und erschienen Jo seltsam fremd.
„Ich habe schon mit der Suche begonnen, doch noch nichts gefunden. Aber acht Augen sehen ja bekanntlich mehr als zwei“, sagte Manù, ergriff die Karaffe und begann, die Gläser zu füllen.
Luc sah fragend in die Runde. „Gibt es etwas, das ich wissen müsste?“
Mádos Enkelin hielt inne, legte die Stirn in Falten und warf Jo einen erstaunten Blick zu.
„Wir haben Luc nicht eingeweiht.“
Manùs Gesicht verdüsterte sich. „Warum nicht?“
Weil er den Fluch genauso wenig ernst nehmen wird wie Motz. Weil …
„Weil das alles Unsinn ist!“, platzte es aus ihrem Bruder heraus. „Hirngespinste einer alten Hexe!“ Er schnaufte und sein rechtes Ohr färbte sich dunkelrot. „Unsere Urgroßmutter ist an einer Krankheit gestorben, nicht an einem Fluch. Ein verfluchtes Buch! Pah!“ Er machte eine wegwerfende Handbewegung, griff nach seinem Glas und leerte es in einem Zug.
Ein kurzes heftiges Funkelntrat in Manùs Augen. „Ich hoffe für deine Schwester, dass du deine Meinung noch änderst.“
Motz schüttelte entnervt den Kopf und verdrehte die Augen. Es war ihm anzumerken, dass es ihn große Mühe kostete, nicht aufzuspringen und den Tisch zu verlassen.
Einen Augenblick lang sprach niemand. Regentropfen klopften an die Fensterscheibe, durch die Jo sah, wie sich auf der anderen Straßenseite die Wipfel der Bäume des Père Lachaise im Wind wiegten.
Luc räusperte sich. „Interessantes Gespräch.“
Motz seufzte und warf seinem Freund einen Blick zu, als wolle er sich für das, was er jetzt sagen würde, entschuldigen. Dann erzählte er Judiths Geschichte. „Ich habe meinen Großeltern versprechen müssen, bei der Suche nach Mádos Manuskript zu helfen“, fügte er abschließend hinzu.
Wie Jo erwartet hatte, grinste Luc breit, als Motz geendet hatte.
„Hmm … das ist doch mal was anderes. Ich bin dabei!“
Sie kniff die Augen zusammen. „Das ist kein Spiel, Luc.“
Er drehte sich zu ihr, mit ernstem Blick. „Woher willst du das wissen?“
Sie wandte sich ab.
Nachdem Jo, Luc und Motz ihr Gepäck im Obergeschoss verstaut hatten, zeigte Manù ihnen das Haus. Es schien fast nur aus Büchern zu bestehen. In endlosen Reihen standen sie in den Regalen, auf dem Boden waren sie zu waghalsigen Türmen gestapelt, in Truhen und Kisten lagen sie scheinbar wahllos aufeinandergehäuft.
Den vieren war klar, dass Mexx die Aufzeichnungen – aus welchen Gründen auch immer – vor oder nach Mádos Verschwinden entwendet haben konnte. Es war genauso gut möglich, dass Mádo sie außerhalb des Hauses versteckt hatte. Schließlich hatte Judith ihn unmittelbar nach ihrem letzten Besuch mit einer Tasche aus dem Haus gehen sehen. Dennoch wollten sie im Haus mit der Suche beginnen.
Sie nahmen sich zunächst den Keller vor und untersuchten jedes Buch, jedes Blatt Papier und jeden Bogen Pergament. Ohne Erfolg. Sie klopften die Wände und den Fußboden ab, nahmen Maß und verglichen die Ergebnisse mit den auf den Karten eingezeichneten Grundrissen, doch sie konnten keine Abweichung feststellen. Es schien keine geheime Kammer zu geben. Nach einigen Stunden beendeten sie die Suche für diesen Tag.
„Was haltet ihr von Manù?“, fragte Luc, als er mit Jo und Motz nach dem Abendessen die Treppe ins Obergeschoss erklomm.
„Welcher vernünftige Mensch beschäftigt sich schon mit Wahrsagerei und Kartenlegen? Das mit dem Fluch hat sie natürlich auch sofort geglaubt“, sagte Motz abschätzig und drückte die Klinke zu seinem Zimmer herunter.
Jo runzelte die Stirn.
„Ich kann nur hoffen, dass wir diese Aufzeichnungen bald finden und den ganzen Unsinn vergessen können. Schließlich wollen wir unsere Zeit in Paris doch wohl anders nutzen.“ Er zwinkerte seinem Freund zu.
„Dagegen hätte ich nichts einzuwenden.“ Lucs Augen glänzten. „Wollen wir noch etwas trinken gehen?“
Motz winkte ab und Jo schüttelte den Kopf. Sie konnte sich kaum noch auf den Beinen halten und sehnte sich nach ihren Betten.
Jos Zimmer lag zur Straße hin und sie konnte von ihrem Fenster aus auf den Père Lachaise blicken. Sie öffnete das Fenster, lehnte sich gegen den Rahmen und zündete sich eine Zigarette an. Der Wind hatte nachgelassen und die Bäume standen reglos über den vom Licht der Laternen gelb getönten Grabsteinen und Grüften. Dort lag Judiths erstes Kind. Eine Gänsehaut überzog Jos Arme, sie schnippte die Zigarettenkippe auf die Straße, wandte sich ab und legte sich ins Bett.
Als Luc und Motz am nächsten Morgen das Haus verließen, um eine Wohnung zu besichtigen, begab sich Jo auf den Friedhof. Sie wollte das Grab von Judiths Erstgeborener besuchen. Mit Manù vereinbarte sie, dass sie die Suche nach den Aufzeichnungen später fortsetzen würden. Der Regen hatte aufgehört, Sonnenstrahlen fanden ihren Weg zwischen den Wolken hindurch und ließen die nassen Grabsteine glitzern. Jo schritt durch die breiten Alleen, über die mächtige alte Bäume schützend ihre Äste hielten, und betrachtete die mit großem künstlerischen Aufwand gefertigten Grabsteine und Grüfte am Wegesrand. Großmutter hatte ihr erklärt, wo das Grab lag, sodass Jo keine Schwierigkeiten hatte, es zu finden.
Es war klein und unscheinbar. Kein Baum und keine Blumen schmückten es, nur ein kleiner Grabstein stand in seiner Mitte, der die Inschrift Simone Moreau – geb. und gest. 20.02.1937 – warum? trug. Jo presste die Lippen aufeinander. Ihre Urgroßmutter hatte viel ertragen müssen. Sie ging in die Hocke und strich vorsichtig mit den Fingern das Moos vom Grabstein, das sich dort festgesetzt hatte. Wie traurig, dass sich niemand mehr um das Grab kümmerte.
Mádo, schoss es Jo durch den Kopf. Melinda hatte doch erzählt, das er hier regelmäßig das Grab seiner Frau in der Familiengruft besucht hatte. Sie sprang auf und steuerte auf einen Gräberplan zu, der an der Friedhofsmauer befestigt war, als sie wie vom Schlag getroffen stehen blieb. Dann fing sie an zu rennen, kam erst vor Mádos Haus zum Stehen und klingelte Sturm. Manù riss die Türe auf.
„Hat Marcel damals in eurer Familiengruft nach dem Manuskript gesucht?“
Manù starrte sie an und fuhr sich mit den Fingern über die kurzen Haare. „Soweit ich weiß, nicht“, sagte sie zögernd und schüttelte den Kopf.
Kurz darauf hastete Jo, ihren schmerzenden Knöchel ignorierend, hinter Manù auf den Friedhof zurück. Die Familiengruft der Feus lag versteckt zwischen einer alten Eiche und einer Ligusterhecke an einem kleinen Querweg. Zwei graue, etwa zweieinhalb Meter große Engel aus Stein bewachten mit finsteren Mienen ein schmiedeeisernes Tor, hinter dem eine Treppe in die Tiefe führte. Jo warf einen Blick hinunter, spürte einen eisigen Hauch und fröstelte trotz der Wärme des Herbsttages. Manù schob sie sanft beiseite, zog einen großen Schlüssel hervor und öffnete das Tor.
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