1 ...6 7 8 10 11 12 ...28 Langsam stiegen sie in die kalte Dunkelheit hinab. Die Treppe mündete vor einer weiteren Tür, die Manù mit demselben Schlüssel öffnete. Muffiger Geruch schlug ihnen entgegen, als sie den dahinterliegenden Raum betraten. Manù betätigte einen Schalter an der Wand und das schwache Licht von drei von der Decke baumelnden Glühbirnen enthüllte in die Seitenwände eingelassene Nischen, in denen steinerne Sarkophage standen.
„Wo liegt deine Großmutter?“, fragte Jo leise.
Manù trat auf die untere Nische am Ende der rechten Wand zu und ließ ihre Hände über den Deckel des dort liegenden Sarkophages gleiten.
„Du willst ihn öffnen“, stellte Jo fest und spürte ein leichtes Unbehagen. Sie hatte keine Angst vor den Toten – alles Böse ging von den Lebenden aus, die Toten waren friedlich –, doch sie fühlte sich nicht wohl dabei, ihre Ruhe zu stören. Gemeinsam hoben die beiden Frauen den Deckel des Sarges an und erstarrten.
Der Sarkophag war bis auf einen gewaltigen Stapel Papier leer.
Manù sog scharf die Luft ein und machte Jo ein Zeichen, den Deckel wieder abzulegen. Ohne ein weiteres Wort verließ sie die Gruft. Jo humpelte schweigend hinter ihr zum Haus zurück.
Am Nachmittag füllten sie gemeinsam mit Motz und Luc die Papiere aus dem Sarkophag in zwei große Reisetaschen und trugen diese ins Haus. Luc schlug vor, auch die anderen Särge zu öffnen, doch Manù wollte davon nichts wissen. „Wir schauen uns zunächst an, was wir gefunden haben.“
Manù verschwand in der Küche, um Tee zu kochen, während Motz und Luc den Inhalt der Taschen auf dem Wohnzimmerteppich ausbreiteten. Jo spürte, dass das leere Grab Manù sehr mitgenommen hatte. Wo mochte der Leichnam ihrer Großmutter abgeblieben sein? In einem der anderen Sarkophage? Kopfschüttelnd setzte sie sich auf den Boden und wandte sich den vor ihr liegenden Schriftstücken zu, die von farbigen Bändern zusammengehalten wurden. Die Seiten waren vergilbt, einige schimmelig und fleckig, andere zerrissen. Es gab uralt erscheinendes Pergament, das bei der Berührung zu zerfallen drohte, Bütten, dickes Papier mit Briefköpfen einer Gesellschaft für magische Heilkunst und dünne Seiten, durch die man fast hindurchsehen konnte. Die Texte waren alle in derselben Handschrift verfasst worden, mal mit breiter Feder und deutlich, mal mit schmalem Federstrich, krakelig und kaum zu entziffern.
Jo tauchte mehr und mehr in Mádos Welt ein. Sie las von Heilpflanzen und Kräutern, deren Namen sie noch nie gehört hatte, von Sammel- und Heilritualen, vom Einfluss der Jahreszeiten und des Mondkalenders auf die Heilung von Krankheiten. Sie entdeckte Rezepte für Zaubertränke und Salben und Anleitungen zu magischen Heiltänzen und Gesängen. Als sich das Tageslicht aus dem Raum stahl und Manù die Lampen anmachte, sah sie das erste Mal auf und spürte, wie müde sie war. Sie verzichtete auf das Abendessen, ging zu Bett und schlief sofort ein.
Am nächsten Morgen machten sich Luc und Motz zu einem weiteren Besichtigungstermin auf, während Jo sich mit ihrer Gastgeberin ins Wohnzimmer begab und erneut den Schriftstücken aus der Gruft widmete. Nach einer Weile warf sie einen verstohlenen Blick zu Manù hinüber, die sich in den Sessel vor dem Kamin zurückgezogen hatte und mit gerunzelter Stirn einen Bogen Pergament studierte. Mádos Enkelin hatte sich ihr gegenüber bisher freundlich und hilfsbereit gezeigt, doch Jo spürte noch etwas anderes, Dunkles, Verborgenes, das ihre Neugier weckte.
„Auf deinem Praxisschild steht Lebenshilfe und Wahrsagerei . Was machst du genau?“, fragte sie, während sie ihren Knöchel massierte, der seit dem Ausflug auf den Friedhof schmerzte.
Manù sah auf und ließ die Hand mit dem Pergament langsam in ihren Schoß sinken. „Ich lege Tarotkarten, befrage die Glaskugel und lese aus der Hand, damit meine Kunden ihre gegenwärtige Situation klarer sehen. Ich sage auch zukünftige Ereignisse voraus, wenn sie dies wünschen.“
„Auch den Tod?“
Die Wahrsagerin hob die Augenbrauen. „Nein.“
Jo zögerte. Dann erzählte sie von ihrer Fähigkeit, den baldigen Tod in den Augen der Menschen zu erkennen. „Ich sage, was ich sehe.“
„Warum?“
„Warum? Weil derjenige dann weiß, wie viel Zeit ihm noch bleibt. So kann er all das, was ihm wichtig ist, noch tun.“
Manù schüttelte leicht den Kopf. „Aber er hat keine Hoffnung mehr. Angst wird ihren Platz einnehmen und seine Seele verschlingen. Das ist grausam.“ Sie musterte Jo mit einem seltsamen Gesichtsausdruck.
Jo blinzelte verwirrt und senkte den Blick. Sie hat recht , sagte die Stimme in ihrem Kopf. Hoffst du nicht auch, dass der Fluch nur ein Hirngespinst von Melinda ist? Wie würdest du dich fühlen, wenn du wüsstest, dass dir der Tod gewiss ist?
Keine Ahnung.
Tsss, machte die Stimme. Das glaube ich dir nicht.
Jo schüttelte das Unbehagen ab, das sich auf ihre Schultern gelegt hatte, erhob sich, trat ans Fenster und sah auf den Boulevard hinaus. Menschen hasteten mit hochgeschlagenen Kragen und mürrischen Gesichtern durch den Herbstregen, jeder mit seinem eigenen Schicksal, jeder mit seinen eigenen Ängsten und Hoffnungen.
„Beschäftigst du dich auch mit Magie?“, fragte sie, um das Thema zu wechseln, und wandte sich vom Fenster ab.
Manù nickte. „Viele der Bücher im Haus stammen aus der Zeit, als mein Großvater noch hier lebte. Ich stieß auf uralte Schwarten mit Heilzaubern und begann, mit den Formeln zu experimentieren. Leider bin ich noch nicht sehr erfolgreich.“ Sie fuhr sich mit der Hand über die Augen und seufzte. „Wäre es nicht wunderbar, die Macht zu besitzen, Krankheiten und Elend mit Magie zu besiegen?“ Ihr Blick verlor sich in dem auf dem Boden liegenden Wust von Papier. „Man würde wirklich etwas bewirken“, fügte sie leise hinzu.
Jo schwieg und musterte Mádos Enkelin, die mit ihren Gedanken weit weg zu sein schien. Sie verließ das Zimmer und durchquerte den Flur, um sich in der Küche ein Glas Wasser zu holen. Die Tür zu Manùs Sprechzimmer stand offen und Jo spähte hinein. Bücher nahmen jeden verfügbaren Platz in den hohen Wandregalen, auf dem Couchtisch, dem Sofa und dem Sessel vor dem Kaminofen ein. Lediglich der runde Tisch in der Mitte des Raumes und die beiden davorstehenden Stühle waren bücherfrei. Jo schlenderte zu den Regalen. Wie konnte ein Mensch nur so viele Bücher besitzen? Das übertraf selbst Melindas Bibliothek bei Weitem. Sie ließ die Finger über die Buchrücken gleiten, zog den einen oder anderen Band heraus, der sich mit Magie und Zauberei befasste, und blätterte darin, fand aber auf die Schnelle nichts über Flüche. Sie biss sich auf die Unterlippe und wandte sich ab.
Auf dem Sessel vor dem Kamin fiel ihr ein dickes Buch ins Auge. Der blaue Einband war beschädigt und verschmutzt und trug keinen Titel. Jo nahm es in die Hand und schlug es auf. Die Seiten waren vergilbt und mit handschriftlichen Anmerkungen versehen. Sie kannte die Sprache nicht und war in gewisser Weise froh, dass sie die Zeilen nicht verstand, wenn sie daran dachte, was passiert war, als sie das letzte Mal ein Buch gelesen hatte. So wie die Worte gesetzt waren, schien es sich um Gedichte zu handeln. Sie blätterte zur ersten Seite zurück, fand jedoch weder Titel noch Erscheinungsdatum, Autor oder Verlag. Nur ein handschriftlicher Vermerk zierte die Seite: Für Mádo 1930 .
Merkwürdig , dachte sie und drehte das Buch in ihren Händen.
Ein Geräusch ließ sie aufblicken. Manù stand auf der Türschwelle, ihre dunklen Augen schienen zu funkeln und ihre Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst. Jo klappte das Buch zu, legte es auf den Sessel zurück und ging wortlos aus dem Zimmer. Sie hörte, wie die Tür hinter ihr zugezogen und abgeschlossen wurde. Als Manù sich später wieder zu ihr ins Wohnzimmer gesellte, erwähnte sie das Buch nicht und gab sich, als wäre nichts geschehen.
Читать дальше