»Deine Mutter?«
»Ja, sie meint, dass er unser Vater ist und egal, wie zerrüttet das Verhältnis zu ihr sei, wir müssten als seine Kinder den Kontakt aufrechterhalten. Total daneben, aber es lohnt den Streit nicht. Zum Glück bemüht sich mein Vater erst gar nicht, irgendwas gut zu machen und akzeptiert, dass wir ihn nur zwei Mal im Jahr sehen wollen. Ich denke, ihm ist das ganz lieb und seiner Schnalle erst recht.«
»Kennst du sie auch?«, fragte Paul, unsicher, ob er nicht ein wenig zu viel im Privatleben von Leonie stocherte.
»Flüchtig, ich vermeide ein Treffen und denke, ihr geht es genauso. Egal, sag mal, haben wir Marc mit dem Praktikum überfahren, oder will der das wirklich machen? Ich hatte nach eurem Besuch in der Villa ein ganz schlechtes Gewissen, weil das alles so schnell ging und er gar nicht dazu kam, nein zu sagen«, wechselte Leonie das Thema.
»Ach was, der ist froh, wenn sich mal jemand für seine Arbeit interessiert. Levi und ich gähnen schon, wenn er wieder irgendwelchen Fotokram anschleppt. Dabei ist er wirklich gut, und ich denke, er kann dir eine Menge zeigen, wenn ihr mal zum Arbeiten kommt.«
»Wie meinst du, wenn wir mal zum Arbeiten kommen? Und grins nicht so.«
Dabei legte Leonie ihren Kopf schief, als ob sie damit Pauls Gedanken leichter lesen könnte.
»Naja, man muss blind, taub und doof sein, wenn es da nicht geknistert hatte, als ihr euch über die Poesie beim Fotografieren unterhalten habt. Das Praktikum ist doch nur ein schöner Vorwand, sich zu treffen. Hab ich Recht?«
Leonie errötete.
»Quatsch, ich kenn den Typ doch kaum, und du weißt, ich möchte nächstes Semester Foto als Hauptkurs belegen, und da kommt das Praktikum gerade recht. Aber meinst du, Marc hat mit mir geflirtet?«
Paul lachte. »Naja, der hätte sicher gern noch ganz anderes mit dir gemacht, aber wenn du es flirten nennst, dann ja, und du schienst auch nicht gerade uninteressiert, oder?«
»Ich fand es nett, dass er sich Gedanken macht und seine Art, Fotografieren nicht nur als Handwerk, sondern auch als Kunst zu sehen. Meine Mutter zum Beispiel findet, dass Bilder machen nichts mit Kunst zu tun hat, denn das kann ja jeder«, versuchte Leonie, Pauls Frage auszuweichen.
Natürlich hatte sie sich über das Angebot von Marc gefreut, aber so konnte sie auch ohne vorgeschobene Gründe öfter in der WG und damit in Pauls Nähe sein. Marc war nett, ja er schien sogar interessant, aber sie kannte ihn kaum und hatte ihrer Ansicht nach seine Versuche, mit ihr zu flirten, unbeantwortet gelassen. Paul sah das anscheinend anders. Ob es ihn ärgerte?, grübelte sie, als Paul fortfuhr.
»Also ich glaube, er freut sich auf dein Kommen und hat mich den ganzen Heimweg gelöchert, wer du bist und ob du einen Freund hast und so weiter. Ich habe ihm aber nichts gesagt. Das kannst du gern selbst machen.«
»Danke, dass du dir solche Sorgen um mein Beziehungsleben machst. Aber das kann ich schon ganz gut allein, und Marc soll sich ausschließlich Gedanken machen, was er mir beibringen will. Sonst bin ich genauso schnell wieder weg, wie ich in der Villa zugesagt habe.«
»Das kriegt ihr schon hin, keine Sorge, und zur Not bin ich ja auch noch da und vermittele im Ehedrama Herbst gegen Harburg«, lachte Paul, der annahm, dass es Leonie ebenso wie Marc erwischt hatte.
»Harburg? Heißt Marc so?«
»Ja, steht zumindest auf dem Klingelschild.«
»Ach ja, richtig. Aber mal was anderes. Was war eigentlich mit dir los in der Villa? So schlecht drauf hatte ich dich noch nie erlebt. Außer vielleicht in der Mensa, wo du Hals über Kopf verschwunden bist. Gibt’s etwas, worüber ich mir Sorgen machen müsste?«
Paul zögerte. Er hatte bislang nur Levi und Marc von Nina erzählt und wollte gegenüber Leonie nicht als der Idiot dastehen, als der er sich nach der SMS-Attacke fühlte.
»Du musst dir keine Sorgen machen. Jeder hat mal einen schlechten Tag, und am Donnerstag fiel mir eine Verabredung ein, die ich fast verschwitzt hätte.«
»Das freut mich, dachte schon, dir geht’s nicht gut, und ich könnte irgendwas für dich tun.«
»Danke, das ist lieb, aber mir geht’s ganz gut«, hoffte Paul, das Thema damit zu beenden.
»Ganz gut? Also so richtig perfekt ist das noch nicht, oder?«
»Perfekt? Naja, welches Leben ist schon perfekt, und wäre das nicht langweilig?«
»Kommt darauf an. Wenn ich Liebeskummer habe, wäre mir ein perfekteres Leben lieber, selbst auf die Gefahr hin, dass die Langeweile dann weniger weh tut«, provozierte sie Paul, der nachdenklich auf seine Finger schaute und den halb gegessenen Apfel in der Hand drehte.
»Mag sein, aber auch das vergeht«, antwortete er schließlich leise.
»Was ist los Paul?« Leonie legte ihre Hand auf seinen Arm und hoffte, er würde jetzt nicht weinen. Doch Paul stand abrupt auf und sah sie ernst an.
»Ich bin ein Idiot, das ist los, und damit muss ich selbst klar kommen.«
»Wie du magst, aber wenn du irgendwas los werden willst, ich höre dir gern zu«, rief sie ihrem davon eilenden Freund hinterher. Sie wusste, sie hatte den Finger in seine Wunde gelegt und spürte selbst einen kleinen Schmerz bei dem Gedanken, dass Paul verliebt war. Wenn auch unglücklich, so doch in eine andere Frau.
Paul hatte nicht vor, Leonie hier und heute von Nina zu erzählen, auch wenn es ihn interessiert hätte, was Leo als Frau dazu meinte, und ob sie ihm eine zweite Chance gegeben hätte. Doch noch waren die Wunden zu frisch und er sich unsicher, ob Nina überhaupt jemals Interesse an ihm gehabt hatte. Von Leonie gesagt zu bekommen, dass er in den Abschiedskuss zu viel hineininterpretiere, hätte ihm das letzte bisschen Hoffnung genommen. So nahm er seine Plastik und ging zurück ins Haus, als erste Regentropfen zu fallen begannen.
Doch egal, was Leonie geantwortet hätte, Nina plagten ähnliche Gedanken, und auch sie spürte, dass sie Pauls getippte Liebesbeichte nicht einfach ignorieren konnte, nein wollte. Er hatte ihr Angst gemacht, aber Paul war nicht der Typ, vor dem sie Angst haben musste. Stattdessen ahnte sie, dass er gerade mehr litt, als sie mit ihrem Schweigen erreichen wollte. Sie saß vor ihrem Telefon und überlegte, ob sie ihn anrufen und was sie ihm sagen sollte. Zögernd nahm sie den Hörer, wählte seine Nummer, doch noch bevor das Freizeichen ertönte, legte sie wieder auf.
Marc hasste es, mit dem Zug zu fahren. Allein diese ungewollte Ansammlung von Menschen, die sich nichts zu sagen hatten und dennoch unentwegt in ihre Handys quasselten. Auch nervten ihn all die dicken, schwitzenden Menschen, die sich durch die schmalen Gänge auf der Suche nach den ebenso beengten Plätzen schoben, wo Privatsphäre ein ungeträumter Traum blieb. Am Schlimmsten allerdings waren für ihn Mütter mit Kleinkindern, deren ständiges Brabbeln oder Schreien an seinen Nerven zerrte.
Entsprechend schlecht gelaunt stieg Marc am Bahnhof aus und sah sich nach seiner Familie um. Doch weder seine Mutter noch sein Stiefvater waren zu sehen. So vertraute er deren Anrufbeantworter an, wie sehr er sich freue, so willkommen zu sein und sich, da gerade kein Zug zurückgehe, ein Taxi nähme. Als er den Taxistand erreichte, bog der Mini-Van seines Stiefvaters in die Parkschleife vor dem Bahnhof, und Marc bereute, sich heute Morgen überhaupt in den Zug gesetzt zu haben. Doch nun war es zu spät und mit einem bemühten Lachen beglückwünschte er seine herbeieilende Mutter zu deren Geburtstag, schüttelte die dargereichte Hand von Mathis, seinem Stiefvater, und fuhr über den Blondschopf seines Halbbruders Ben, der sich genervt wieder auf die Rückbank des Vans verzog.
»Trish konnte nicht mitkommen, sie hat Hausarrest und wartet daheim«, beantwortete seine Mutter die nicht gestellt Frage.
Was wohl die größere Strafe gewesen wäre, dachte Marc und wuchtete seine Reisetasche in den Kofferraum.
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