»Nein, sie wird dort betreut. Einzig, wenn du sie vielleicht mitnehmen und dort abgeben könntest. Wir wissen uns keinen Rat mehr«, seufzte seine Mutter.
»Was sagt Trish dazu?«
»Ihr scheint alles egal zu sein. Sie redet kaum noch mit uns seit dem Vorfall. Wir haben auch schon überlegt, einen Psychologen einzuschalten, aber das Jugendamt meint, sie müsse erst einmal raus aus der problematischen Umgebung.« Marc nickte. Er selbst hätte in Trishs Alter ein Internat dem Leben in dieser Familie vorgezogen und fühlte sich seiner Stiefschwester näher, als diese ahnte.
Irgendwo hinter dem Bahnhof musste das alte Stahlwerk liegen. Paul fürchtete, in die falsche Richtung abgebogen zu sein, als er es plötzlich sah. Ein restaurierter Ziegelbau mit Lokalen, einer kleinen Ladenstraße und dem Laientheater im Inneren. Der Biergarten vor dem Stahlwerk war an diesem sonnigen Samstagnachmittag gut besucht.
Paul suchte Nina, nicht sie persönlich, aber einen Ort, von dem er wusste, dass sie dort zufällig hätte sein können. Er drückte sich am Zaun des Biergartens herum und beobachtete den Eingang zum Stahlwerk. Einerseits hoffte er, Nina zu begegnen, andererseits wäre er im Erdboden versunken, wenn sie plötzlich vor ihm gestanden hätte.
Nach einer Weile fand er den Mut, sich ein Bier zu holen und an einen der Biergartentische zu setzen, den Eingang des Stahlwerkes immer noch im Auge. Was genau wollte er hier? Nina schwieg noch immer, und er hielt es zuhause nicht mehr aus. Die Decke fiel ihm auf den Kopf, und der Wunsch, sich wieder bei ihr zu melden, wuchs stündlich. Plötzlich drehte er sich erschrocken um. Leonie musste da sein, er hatte ihr Parfüm gerochen. Er liebte diesen Duft und wollte sie schon mehrmals nach dessen Namen fragen, vergaß es aber ebenso regelmäßig. Jetzt roch er es wieder, doch Leonie war nirgends zu sehen. Wohl auch besser so, dachte er und erhob sich, um hinein zu gehen.
Im Stahlwerk herrschte ein ziemliches Gedränge an den vielen kleinen Läden mit allerlei Kunsthandwerk und anderem dekorativem Unrat. Duftschwaden von Räucherstäbchen mischten sich mit den diversen Gerüchen der Essstände aus aller Herren Länder, doch Paul war nicht hungrig. Eher neugierig, wo der Probenraum der Theatergruppe war und ob er irgendwen dort antraf. Einigen Pärchen ausweichend, die Hand in Hand von Stand zu Stand bummelten, suchte er nach einem Hinweisschild auf das Theater.
»Kann ich helfen?«, sprach ihn plötzlich von hinten eine Frauenstimme an, als er eine unbeschriftete Tür neben den Toiletten öffnete. Paul drehte sich erschrocken um.
»Ich suche das Theater, das es hier geben soll«, beeilte er sich zu erklären, während er hastig die Tür schloss. Eine Frau, zirka 30, stand vor ihm, einen Aktenordner in der Hand und lächelte ihn an.
»Du meinst vermutlich das Mireille , unsere Kleinkunstbühne im Nebengebäude, doch die ist im September geschlossen.«
Sie musste Paul die Enttäuschung angesehen haben, denn sie schlug ihren Aktenordner auf.
»Wenn du kurz wartest, kann ich nachschauen, wann wieder Proben sind.«
Paul schwieg, bis die Frau ihren Ordner durchgeblättert hatte. Anscheinend vergeblich, denn sie klappte ihn wortlos zu und schaute angestrengt durch ihn hindurch.
»Bitte machen Sie sich keine Umstände, ich dachte ja nur, ich gucke mir das Theater mal an. Aber ich kann jederzeit wiederkommen.« Ihm war die Sache irgendwie peinlich.
»Kein Problem, ich überlege nur gerade, wo ich den Probenplan hingetan habe. Willst du dort mitspielen?«
»Gott bewahre nein, ich kenne nur eine der Schauspielerinnen und wollte ihr zuschauen.« Die Frau schmunzelte. »Verstehe, also lass uns kurz in mein Büro gehen, dort muss der Plan liegen. Wen kennst du von der Theatercrew?«
Paul folgte ihr irritiert. Wieso gab die sich solche Mühe, nur weil irgendein Typ nach einem Theater sucht, das geschlossen ist?
»Nina heißt sie. Ungefähr so groß und blond«, hielt er die flache Hand vor seine Nase. »Aber bitte, so wichtig ist das doch alles nicht.«
»Keine Sorge, ich bin hier für die Organisation der Veranstaltungen zuständig, und mein Freund ist der Regisseur. Eigentlich müsste ich wissen, wann die Proben starten. Doch ich hab’s vergessen. Nina also. Ja die kenn ich, kann ihr gern einen Gruß ausrichten.«
»Bloß nicht. Ich kam nur zufällig vorbei. Ist total unwichtig«, versuchte Paul zu verhindern, dass Nina ihn jetzt auch noch für einen Stalker hielt.
»Sieh da, hier ist die Liste«, überging die Frau des Regisseurs seinen Einwand. »Und da steht’s. Die Proben fangen kommenden Montag an, also übermorgen. Das Stück heißt Spike, eine Überdosis .«
»Sicher ein heiteres Stück, danke.«
Paul versuchte von der Unruhe abzulenken, die sich seiner bemächtigte. Am Montag wird sie hier sein, in zwei Tagen ist sie ganz in der Nähe. Und gleichzeitig war sie so verdammt weit weg, denn er konnte unmöglich am Montag wieder herkommen und wie zufällig bei den Proben zu schauen. Was, wenn diese Frau ihn dann sah und Nina von der heutigen Begegnung erzählte. Gott, wieso war das alles nur so kompliziert?
»Mag sein, aber Genaueres könnte dir mein Freund erzählen. Komm halt mal zu den Proben«, ignorierte sie Pauls Ironie und drückte ihm eine Kopie der Probentermine in die Hand.
Paul stammelte irgendwas von »Danke« und »mal sehen« und lief, ohne sich an den Weg zu erinnern, zurück in den Biergarten, durchquerte diesen mit dem Gefühl, dass ihm dutzende Augenpaare folgten und blieb erst stehen, als er den Bahnhof erreicht hatte. Er war ganz außer Atem. Was nur hatte bei ihm diese Panik ausgelöst? Nina war nicht da gewesen, und am Montag würde er nicht zur Probe kommen.
Was also war das Problem?
Paul grübelte noch immer, als er am Kino ankam und die Kasse unbesetzt vorfand. Bones musste bereits im Vorführraum sein, in wenigen Minuten fing die Vorstellung an. Er klopfte, bevor er die Tür zum Vorführraum aufschloss. Doch Bones war nirgends zu sehen. Auch waren die Filmrollen noch nicht eingelegt, alles schien verwaist. War er am falschen Tag da? Nein, es war kurz vor Sieben an einem Samstagabend, und jetzt hätte die erste Vorstellung beginnen müssen. Doch auch im Kinosaal saßen keine Zuschauer, und wo nur steckte Bones? Paul ging zurück an die Kasse und suchte nach einem Hinweis. Da sah er den Zettel neben dem Programmplan, auf dem hastig 19 Uhr keine Vorstellung hingekrakelt war, Bones Handschrift. Paul beschloss, im Vorführraum zu warten und setzte sich auf das alte Sofa neben dem Schreibtisch.
Er hatte über der Sache mit Nina das Treffen mit Bones vor zwei Tagen völlig vergessen. Auch konnte er sich nicht aufraffen, diesen zurückzurufen. Erst auf der Heimfahrt vom Theater beschloss er, bei ihm vorbeizuschauen, nicht zuletzt, um endlich zu erfahren, was es Wichtiges gab.
Jetzt blätterte er unkonzentriert in einer der Zeitungen von letzter Woche, gab das dort abgedruckte Sudoku nach wenigen Minuten auf und überlegte, Bones doch anzurufen. Allerdings wollte er sein Fernbleiben vom Donnerstag nicht am Telefon erklären. Also wartete Paul und dachte an die letzten Tage. Wie hatte sich sein Leben seit dem Besuch im Museum vor einer Woche nur verändert?
Plötzlich schrak Paul hoch, er musste eingenickt sein. Nebelhaft verschwanden die letzten Erinnerungen an einen kurzen, wirren Traum. Irgendwer machte sich an der Tür zu schaffen. Paul suchte vergeblich nach einem geeigneten Gegenstand, um sich notfalls zu verteidigen. Da flog die Tür auf, Paul duckte sich hinter das Sofa, und Bones, vom eigenen Schwung überrascht, stolperte in den Raum. Dieser musste versucht haben, die Tür aufzuschließen, was an Pauls innen steckendem Schlüssel scheiterte.
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