Ich muss ihn umgehen, indem ich meine Kenntnis des Gebiets nutze! Ich habe den Heimvorteil und kann ihm so entkommen, ohne dass er mich sieht oder hört!
Doch je weiter Sirian rannte, desto heftiger wurden seine Schmerzen, seine Seite schien förmlich zu brennen und seine Rippen fühlten sich an, als bohrten sie sich gerade in die Lungen!
Hinter ihm hörte er die Schritte Avons, ein rhythmisches Aufeinandertreffen von Pfützen und Stiefeln, immer wieder, immer im selben Abstand.
Verzweiflung ergriff Sirian, als er noch einmal realisierte, dass er sein Schwert nicht mitgenommen hatte. Er war vollkommen wehrlos! Panisch bog er scharf ab, in eine der engeren Gassen und rannte sie entlang, dabei über die Schulter zurückblickend. Anscheinend hatte Avon ihn verloren, denn er kam nicht in die Gasse! Sirian wollte schon triumphierend jubeln, als er endlich nach vorne schaute und beinahe gegen die solide Steinmauer gerannt wäre, die vor ihm aufragte. Schlitternd kam er zum Stehen und schlug gegen die Steinmauer, als könne er sie mit den bloßen Händen einreißen.
„Nein!“, flüsterte er atemlos und ignorierte das Brennen und Stechen in seiner Seite.
Am Eingang der Gasse wurden die Schritte wieder lauter, Sirian schlug noch einmal mit der Faust an die Mauer, versuchte an ihr hoch zu springen. Es gelang ihm nicht! Er steckte fest! Fest in einer Sackgasse, in der es kaum Licht gab, in einer Sackgasse, die so eng war, dass man nur durch den Eingang wieder hinaus konnte. Durch den Eingang, den Sirians Verfolger nun blockierte.
„Hallo Sirian“, hauchte der Mann leise, doch Sirian konnte es genau verstehen. Jedes einzelne, verdammte Wort.
„Was willst du?“, fauchte Sirian zurück und sah sich hektisch nach etwas um, das er als Waffe einsetzen konnte, sollte es zu einem Kampf kommen. Er fand nichts!
„Was ich will?“ Avon lachte laut auf und trat federnden Schrittes näher.
„Kannst du es dir nicht denken? Ich habe doch gesehen, wie du den Wirt über mich ausgefragt hast und ich denke du weißt, wer ich bin und was ich tue.“
Im schwachen Licht vermochte Sirian ein gehässiges Grinsen auszumachen und er wich mit dem Rücken an die Wand zurück, drückte sich an das kalte Gestein.
„Du willst mich töten?“, flüsterte Sirian heiser und spannte sich innerlich an. Avon kicherte leise und Sirian hörte, wie eine Klinge aus einer Schwertscheide gezogen wurde, das Metall blitzte kurz im spärlichen Licht auf, das von einem einzigen Bullauge in der Gasse gespendet wurde.
„Nein, nicht nur dich. Auch alle, denen du von Godrics Mord erzählt haben könntest. Die nette Frau am Stand, die Kräuter verkauft hat, haben wir schon … genauso wie den Wirt, obwohl ich zugeben muss, dass mir der alte Fettsack schon lange ein Dorn im Auge war, ich suchte nur nach einem Grund, ihn los zu werden.“
Sirians Augen weiteten sich entsetzt und er sackte leicht in die Knie.
„Das kannst du nicht! Der Wirt … ! Die anderen Gäste waren da! Sie hätten dich aufgehalten!“
„Dummer Junge! Um die Uhrzeit sind normalerweise nie Arbeiter in der Taverne! Und das hat sich auch nicht geändert! Die Männer dort in der Taverne haben für mich gearbeitet!“
Erneut lachte Avon, diesmal freudlos und schadenfroh.
„Schade nur, dass ich nicht mehr gesehen habe, wie sie das fette Schwein erledigt haben, aber ich musste dir ja hinterher!“
Avon war jetzt nur noch fünf Schritte von Sirian entfernt. Er musste nur springen und zustoßen, dann würde Sirian sterben – ohne sich auch nur im Geringsten wehren zu können.
Erfahrene Paladine und Kämpfer wussten, wie man jemanden entwaffnete und die Waffe anschließend gegen den Angreifer benutzte, doch Sirian war nie ein Freund von Gewalt gewesen; er konnte das nicht!
Ich muss Zeit gewinnen!, dachte Sirian panisch und versuchte seinen Atem zu beruhigen.
Ich muss so viel Informationen wie möglich sammeln! Wenn ich es schaffe zu entkommen, dann könnte ich die Situation zu meinem Vorteil nutzen!
„Für wen arbeitest du?“, platzte Sirian heraus und ging etwas in die Knie.
Avon schnaubte und schüttelte den Kopf, hob das Schwert und Sirian wandte den Blick ab, schloss die Augen. Er konnte nicht ausweichen, der Platz reichte nicht und im direkten Kampf zwischen Fleisch und Stahl gewann immer der Stahl.
„Ich werde es schnell machen, du wirst es gar nicht spüren. Nun vielleicht ein bisschen.“
Das Grinsen auf Avons Lippen wurde breiter und er holte aus, um zu schlagen.
Etwas raschelte. Sirian zuckte in Erwartung des Schlags zusammen, doch der Schlag kam nicht.
Zögerlich öffnete Sirian die Augen und schaute zu Avon. Sein Arm war immer noch erhoben, bereit, das Schwert auf Sirian hinabfahren zu lassen, aber er schlug nicht zu, sondern blickte mit weit aufgerissenen Augen auf etwas über Sirian. Langsam, zögerlich legte Sirian den Kopf in den Nacken und blickte nach oben. Oben, auf der fünf Meter hohen Mauer stand eine Gestalt in einem schwarzen Mantel, die Kapuze war so tief ins Gesicht gezogen, dass man es in dem sowieso schon fahlen Licht nicht erkennen konnte. Sirian schluckte schwer und seine Hände an der kalten Steinwand verkrampften sich. Mit einem weiteren Rascheln des Mantels, das sich anhörte wie der Flügelschlag eines Raben, stieß sich die Gestalt von der fünf Meter hohen Mauer ab und vollführte in der Luft einen eleganten Salto. Niemand konnte aus dieser Höhe springen und so weich und abfedernd landen, wie eine Katze! Niemand konnte nach einem Sprung aus dieser Höhe in einer eleganten Pirouette herumwirbeln und ein Schwert ziehen! Doch die Gestalt tat es.
Avon wich überrascht zurück, wehrte die schnellen und präzisen Schläge mehr schlecht als recht ab. Der Fremde stieß zu, wie eine Schlange, schlug blitzschnell zu, nur um sich dann wieder zurückzuziehen, bevor er wieder zustieß. Die Gasse war zu eng, als dass man groß ausweichen konnte, hier galten alleine die Fähigkeiten mit dem Schwert. Avon schlug wild und heftig zu, drängte den Fremden immer weiter zurück. Dieser ließ sich darauf ein, sein Rücken kam Sirian immer näher, die Klingen krachten schnell aufeinander und ab und an sah man sie im schwachen Licht aufblitzen.
Plötzlich stoppte der Fremde seinen Rückzug und trat unvermittelt einen Schritt auf Avon zu, verkürzte die Distanz so sehr, dass sie sich fast berührten. Avon schrie auf, wollte zurückweichen, um wieder Platz zwischen sie zu bringen, aber war einen Augenblick zu langsam. Der Fremde blockte einen letzten verzweifelten, viel zu hoch angesetzten Schlag, tauchte unter Avons Deckung und stieß zu. Avon ächzte, sein entsetzter Blick richtete sich auf das Schwert, das sich durch ihn gebohrt hatte und aus seinem Rücken wieder austrat. Blut tropfte aus Avons Mund, er ging leicht in die Knie, packte den Fremden am Arm, aber dieser zog das Schwert mit einem widerlichen Geräusch heraus und schlug Avon das Knie mit voller Kraft ins Gesicht. Es knackte, Avon fiel nach hinten, zuckte noch einen Moment, dann erlahmten seine Bewegungen und er blieb leblos liegen.
Sirian löste sich von der Wand und trat auf den Fremden zu, verengte die Augen zu Schlitzen in dem Versuch, einen Blick auf dessen Gesicht zu erhaschen. Der Fremde steckte das Schwert weg und beugte sich zu dem Toten hinunter, durchsuchte systematisch dessen Taschen.
Bei den drei Säulen! Er hat ihn so schnell getötet … als wäre Avon nur ein Straßenköter!
„Wer bist du?“, flüsterte Sirian leise.
Der Fremde erhob sich, sah Sirian an. Obwohl es nun hell genug war, konnte Sirian das Gesicht nicht erkennen. Es war, als fliehe das Licht vor dem Mantel und der Kapuze.
„Ich bin ein Freund“, erwiderte der Fremde und trat mit seiner Fußspitze auf den Leichnam Avons, „im Gegensatz zu diesem Mörder hier.“
Sirian wandte den Blick von den toten Augen des Mannes ab und hielt sich den Magen.
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