Das erste Anzeichen für die Eversia war eine plötzliche Unfähigkeit, bestimmte Körperteile zu bewegen und kleinere Bewegungen auszuführen, gefolgt von Zittern und stechenden Schmerzen in den Gelenken und Nervenknoten.
Er selbst war offenbar verschont geblieben, doch seine Schwester …
Meine Schwester wurde mit einem Fluch geboren. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es soweit kommen würde; sie ist nun sechzehn, ein ganzes Jahr über dem Durchschnitt. Sie weiß nicht, was auf sie zukommt, dafür hat unser Vater gesorgt. Und ich muss es ihr entweder sagen, oder schweigen und so tun, als wüsste ich es nicht. Wie soll ich das schaffen? Wie kann man vor jemanden treten und ihm ins Gesicht sagen, dass er sterben wird? Ich glaube, ich kann das nicht …
„Ich brauche blaues Myrium“, wiederholte Sirian flüsternd und streckte zitternd eine Hand nach dem seltenen Kraut aus; es würde die Schmerzen lindern, wenn es soweit war … was bei Melanie jeder Tag sein konnte.
Bruxa warf ihm einen mitleidigen Blick zu und band ihm geschickt ein Bündel blaues Myrium zusammen, reichte es ihm und winkte ab, als er ihr die goldene Krone geben wollte.
„Lass das Geld bloß stecken, Junge. Ich werde deine Schwester heute Abend in meine Gebete an den Letzten Herrscher einschließen. Ich lebe lange genug, um zu wissen, dass Wunder vorkommen.“
Ich glaube nicht an Wunder. Ich glaube an gar nichts mehr! Ich musste zusehen, wie meine Mutter sich in den Armen meines Vaters verflüssigt hat! Ich habe dabei zugesehen, wie meine kleine Schwester anfing, unter dem selben Fluch zu leiden! Es gibt keine Wunder!
„Ich bin sicher, es wird ihr helfen“, sagte er jedoch stattdessen, neigte kurz sein Haupt und betrat mit einem leisen Schluchzen das Labyrinth der ewigen Nacht.
„Stehe ihr bei, wenn es soweit ist!“, hörte er Bruxa noch, dann erstarben die Geräusche um ihn herum und das Licht erblasste.
An den Seiten des Kopfsteinpflasters, dort, wo der Weg in das Fundament der Häuser überging, gluckste das stinkende Abwasser, warf sogar manchmal Blasen. Der penetrante Geruch von Abfall, verfaultem Fisch und Ausscheidungen war hier noch schlimmer als direkt an den Docks, wo man darauf hoffen durfte, dass eine gnädige Brise den Gestank für einen Moment vertrieb.
Niemand sollte gezwungen sein, in solch einer Kloake zu leben. Kein Wunder, dass meine Schwester unter der selben verdammten Krankheit leidet wie meine Mutter! Wie sollte jemand hier drin auch gesund werden? Wieso tut der Letzte Herrscher nichts gegen die Zustände? Angeblich hat er doch die Macht, die ganze Welt mit einem Fingerschnippen zu beugen. Wieso sehe ich davon nichts?
Hier war es absolut windstill. Zu dieser Zeit trieben sich nur wenige Leute in den Gassen herum und die, die es taten, gehörten mit Sicherheit zu irgendwelchen Banden. Doch während Sirian durch die finsteren Gassen lief, begegnete er niemandem. Fackeln waren verboten. Sollte auch nur eine irgendetwas entzünden, würde die gesamte Hafenstadt sich in Sekundenbruchteilen in ein höllisches Inferno verwandeln. Daher waren die Lichter in den Häusern die einzige Lichtquelle im 'Partus aeternae Noctis', dem Teil der ewigen Nacht. Tag und Nacht beleuchteten sie spärlich die Gassen und Schleichwege und es war gerade ausreichend, um den Weg in die Docks und wieder zurück zu finden, ohne sich zu verirren … wenn man sich auskannte. Müde lief er die dunklen Gassen entlang, monoton einen Fuß vor den anderen setzend, den Kopf gesenkt, den Blick auf den dreckigen Boden gerichtet. Es war noch nass vom letzten Regen und wenn es so weiterging, würde das Hafenviertel überflutet, wie es schon so oft geschehen war. Passierte dies, holte man Boote aus hoch gebauten Lagerhäusern und fuhr auf den Gassen entlang, bis die Straßen wieder zugänglich waren. Und es sah danach aus, dass es dieses Jahr wieder so sein würde.
Das Haus seiner Schwester lag weit von den Docks entfernt, so ziemlich genau in der Mitte des Labyrinths. Den Weg dorthin kannte er in und auswendig, war er ihn in seiner Kindheit doch jeden Tag gegangen, um die großen Schiffe auslaufen zu sehen. Damals hatte er sich geschworen, eines Tages auf einem Schiff das Meer zu bezwingen und ein neues Land zu finden, so wie die Vorfahren der Menschen Moréngard gefunden hatten. Nun steckte er hier fest, hatte Angst um das Leben seiner Schwester und versuchte mit seinem Mentor Aaron, den zweitmächtigsten Mann Moréngards eines Mordes zu bezichtigen. In Gedanken versunken hatte er gar nicht gemerkt, dass er schon angekommen war. Das Haus seiner Schwester, oder wohl eher seiner toten Eltern, war etwas breiter als die anderen darum herum und auch der Eingang sah nicht ganz so heruntergekommen aus, wie die der anderen Häuser. Er atmete noch einmal tief durch, bevor er die knirschenden Treppen zu der Tür hinauf stieg, die Hand auf die Klinke legte, sie herunter drückte und eintrat. Das leise Prasseln eines kleinen Feuers, vermischt mit dem Zischen von kochendem Wasser waren die einzigen Geräusche, die er hörte, als er eintrat. Das Feuer brannte in einem alten, staubigen Steinkamin vor sich hin und schenkte nur bedingt Wärme, doch es war genug, um nicht zu frieren. Das Zischen kam von dem mit Wasser gefüllten Kessel, der über eben diesem Feuer hing. Das Mobiliar war kümmerlich, aber ausreichend. Vor dem Kamin stand der alte Sessel seines Vaters und neben dem Kamin erstreckte sich eine Reihe von kleinen Kommoden über die ganze Wand, bis hin zu der Treppe, die in die höheren Etagen des Hauses führte. In der kleinsten Ecke des Hauses hatte ihre Mutter eine kleine, notdürftige Küche eingerichtet, von der aus man leicht die Sachen auf den wackeligen Tisch stellen konnte. Ihre Mutter war eine sehr praktische Frau gewesen …
Sirian ging zu dem Sessel, legte den Lederharnisch seiner Adeptenrüstung ab und warf die gekauften Kräuter in das nun saubere Wasser. Er wagte es immer noch nicht, in der Hafenstadt seine graue Rüstung eines Adepten zu tragen. Oft genug hatte er gesehen, wie Menschen zusammengeschlagen worden waren, nur weil sie entfernt an ein exekutives Staatsmitglied erinnerten. Das Wasser hatte er heute morgen geholt, gereinigt und über das Feuer gehängt, damit es kochen und somit Viren abtöten konnte, sollten welche in dem Wasser enthalten sein. Das Wasser zischte und brodelte, nahm eine bläuliche Färbung an und der Geruch von Jasmin breitete sich in dem Zimmer aus. Sirian beobachtete eine Weile das nun dunkelblaue Wasser, rieb sich die Stirn.
Melanie war immer noch der festen Überzeugung, ihr ginge es wieder gut. Sie schwärmte jeden Tag davon, wie bald sie wieder gesund werden und aus der Hafenstadt ausziehen würde – und er musste nun zu ihr gehen und ihr sagen, dass sie sterben würde.
So weit ist es nun also schon gekommen, dass ich meine Schwester aufgegeben habe, wo sie noch an mich glaubt. Was bin ich nur für ein Bruder?
Im Herzen kannte er die Antwort bereits seit langem; im Herzen hatte er begriffen, dass er seiner Schwester nicht half, weil er sie als Schwester liebte, sondern weil es ihm sein Pflichtgefühl verbot, sie endlich hinter sich zu lassen. Seit ihr Vater gestorben war, war sie für ihn eine Last gewesen, ein Gewicht, das ihn immer wieder in seine niedere Herkunft hinunter zog.
Am liebsten hätte Sirian sich für sein Verhalten eine Ohrfeige gegeben, aber er erhob sich zitternd aus dem Sessel und blickte hinauf zur Treppe, wo seine Schwester schon auf ihn wartete.
Ich kann gehen … in ein paar Tagen ist es sowieso vorbei. Ich kann ihr das Mittel geben und sagen, dass ich gehen muss. Ich weiß, dass sie Verständnis dafür hätte. Ich würde ihr nicht sagen müssen, was geschehen wird. Sie würde alleine sterben, aber in der Hoffnung, dass alles wieder gut wird.
Er ging auf die Treppe zu, die in das Zimmer seiner Schwester hinauf führte. Die Stufen ächzten laut, als er eine nach der anderen nahm, die eine Hand angespannt auf das Geländer stützend. Von oben hörte er ein Poltern, Schritte auf dem Holzboden über ihm. Staub rieselte herunter und er hustete, als er etwas davon in die Lungen bekam. Er hatte seiner Schwester gesagt, sie solle unbedingt liegen bleiben, aber sie war schon immer sehr … lebhaft gewesen.
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