Nachmittags, wenn die anderen Schiffe beladen waren, kamen die Schiffe des Händlerkönigs Savaron hierher, legten an und dann wurde jeder in der Nähe dazu gebraucht, so viel wie möglich so schnell wie möglich von den Schiffen herunter zu schaffen.
Manchmal legten auch in der Nacht Schiffe an und man munkelte, das seien die Schiffe der Menschenhändler, die seit einiger Zeit wieder in Moréngard nach Beute suchten.
Der Menschenhandel war ein großes Problem geworden in den letzten Jahren und die Hafenstadt von Moréngard hatte sich als der beste Platz herausgestellt, diesen zu zelebrieren.
Solange Sirian sich erinnern konnte, hatte er hier gelebt, in den Schatten der hohen Gebäude der Hafenstadt.
Und doch hasse ich diesen Ort mehr als jeden anderen …
Noch immer plagten ihn die Erinnerungen an seine Familie und seine Vergangenheit, suchten ihn nachts in seinen Träumen heim und raubten ihm den Schlaf.
Sein Vater war einmal ein Paladin gewesen, ein Verfechter des Ordens, bis seine Mutter gestorben war; dann hatte sich alles gravierend verändert. Seinem Vater war der Sinn für die Realität abhanden gekommen, alle möglichen Gründe für den Tod seiner Mutter gesucht und Stück für Stück den Verstand verloren. Während seiner Kindheit hatte er seinen Vater fürchten gelernt, wenn er nachts – angetrunken und schlecht gelaunt – nach Hause gekommen war und einen seiner Wutanfälle bekommen hatte.
Mein Vater hat Geschäfte mit den Schmugglern gemacht und als er sie nicht bezahlen konnte, floh er hierher, um sich zu verstecken. Er hat sich nie um Melanie und mich gekümmert; kein einziges Mal! Wir waren ihm egal!
Sirian rieb sich die Stirn und der pochende Schmerz in seinem Kopf ließ kurz nach, wich einer gähnenden Leere in seinem Kopf, die sich schlagartig mit Erinnerungen füllte.
Sein Vater war gestorben und hatte ihn mit seiner kleinen Schwester alleine gelassen; eine Schwester, wegen der er sich immer zwischen seinem Vater und ihr hatte entscheiden müssen.
Eine Schwester, die ihn immer daran gehindert hatte, auszubrechen aus der Hafenstadt, weil sie die gleiche erbliche Krankheit hatte, an der seine Mutter gestorben war – und sie deshalb jemanden brauchte, der sich um sie kümmerte.
Mit einem Seufzen erhob Sirian sich, streckte sich genüsslich und blickte der breiten Häuserfront der Hafenstadt entgegen; hier an den Docks herrschte Licht – doch dort tief drinnen, in dem unendlichen Labyrinth der Hafenstadt, drang selbst am Tage kein einziger Lichtstrahl durch die Vordächer der einzelnen Etagen. Die Menschen hatten die Hafenstadt schon so gefunden, als sie vor knapp tausend und dreihundert Jahren hier gelandet waren, mit ihren Schiffen, und hatten sich entschlossen, die Stadt gleich zu beziehen.
Sie hätten sie niederbrennen sollen … dann müsste niemand in diesem Drecksloch leben!
Die Häuser der Hafenstadt ragten so hoch in den Himmel wie kein anderes Gebäude im ganzen Land und wenngleich aus Holz, so waren sie doch außerordentlich stabil; jedoch waren die Zugänge zu den oberen Etagen vollkommen zerstört, so dass die meisten Bewohner höchstens bis zur zweiten Etage kommen konnten. Jede einzelne Etage hatte ein kleines Vordach und je tiefer man kam, desto dunkler wurde es. Unten im Labyrinth waren Fackeln und Feuer verboten, weil ein Funke an der falschen Stelle, das ganze Viertel in eine tosende Feuerbrunst verwandeln konnte. So mussten die Bewohner Tag und Nacht für Beleuchtung innerhalb ihrer Häuser sorgen, die dank der Bullaugen nach draußen auf die schlammigen Gassen geriet.
In Gedanken versunken schlenderte er das Landungssteg entlang, kalter Wind fegte ihm durch das kurze, braune Haar und er verzog das Gesicht; ein Gutes hatte das Labyrinth der Hafenstadt doch – nur selten verirrte sich eine Brise dort hinein, wenn es kalt war … im Gegenzug entwich auch die Hitze im Sommer nicht.
Das laute Geräusch seiner Schritte erstarb, als er den Stein der Docks erreichte und direkt auf die alte Kräuterheilerin zuhielt, die schon alt war, seit er ein kleines Kind war.
Ich habe keine Ahnung, wie sie das macht. Die meisten im Hafenviertel sterben, bevor sie die Vierzig erreichen und sie vegetiert hier vor sich hin, fast blind und doch noch am Leben …
Die Hafenstadt war das Viertel mit der größten Kriminalitätsrate und täglich starben hier viele Menschen an nicht ganz gewöhnlichen Todesursachen. Hier nannte man das dann einen unkonventionellen Tod und die Personen, die von einem solchen erwischt wurden, erwähnte man am besten niemals wieder.
Hier gab es keine Gardisten, keine Wachen und erst recht keine Paladine; Sirian hatte keinen Zweifel daran, dass er im Moment der einzige anwesende Vertreter des Staates im Hafenviertel war.
Als er sich der alten Kräuterheilerin näherte, breitete sich auf ihren Lippen ein Lächeln aus und streckte ihm ihre knorrigen Hände entgegen. Er hatte nicht alle Ingredienzen in der Oberstadt bekommen können, doch hier konnte ihm immer geholfen werden.
„Sirian, mein Junge!“, rief sie fröhlich aus und tastete nach ihrem Stock, um ihm entgegen zu humpeln.
Sirian sprang ihr hastig entgegen, damit sie nicht fiel und bugsierte sie sanft aber bestimmt zurück an ihren Kräuterstand.
„Übertreibe es nicht, Bruxa“, riet Sirian ihr leise und lehnte sich an ihren Stand.
„Ich weiß zwar nicht, wie lange du noch hier arbeiten willst, bevor du einsiehst, dass dieses Viertel hier zu gefährlich ist, aber ich will nicht, dass du wegen mir auf die Docks fällst.“
Bruxa verzog eine Miene und holte mit ihrem Stock aus, um ihm einen Schlag zu verpassen, verfehlte ihn jedoch und fluchte leise.
„Du wirst mit jedem Mal frecher, Bengel!“, schimpfte sie, doch Sirian wusste, dass sie es nicht so meinte.
Bruxa hatte schon seine Mutter behandelt, als es ihr zusehends schlechter gegangen war und hatte ihre Schmerzen dauerhaft senken können; am Ende hatte jedoch selbst ihre Hilfe nichts ändern können.
Seine Mutter war gestorben, in den Armen seines Vaters.
„Ich brauche blaues Myrium, Bruxa“, kam Sirian zum Thema und holte ein wenig Geld aus einem Beutel.
„Melanie geht es nicht gut und ich bin hier, um mich um sie zu kümmern. Ich glaube, es ist ein Fieber, oder …“
„Lüg' mich nicht an, Junge!“, bellte Bruxa plötzlich und Sirian zuckte zusammen wie unter einem Peitschenhieb. Der freundliche Gesichtsausdruck war aus ihren runzeligen Zügen gewichen und sie kniff die blinden Augen zusammen, dachte kurz nach.
„Sie hat die Eversia, richtig?“, zischte sie endlich und über Sirians Lippen fuhr ein trauriges Seufzen; es hatte keinen Sinn, es zu leugnen.
Die Alte kennt sich einfach zu gut aus, als dass man sie in der Hinsicht überlisten könnte …
„Letztes Stadium“, antwortete er niedergeschlagen.
„Ihr Körper bereitet sich bereits auf die letzte Conciditionsperiode vor und daher hat sie die letzten Tage starkes Fieber gehabt und …“, er schaffte es nicht den Satz zu beenden und ließ niedergeschlagen den Kopf hängen.
Die Eversia war eine erbliche Krankheit, die von Generation über Generation weitergegeben wurde. Sobald man einen Elternteil oder einen direkten Nachfahren hatte, der unter der Eversia litt, bestand die Gefahr, dass die Krankheit bei einem selbst auch ausbrach. Dabei verkümmerten Stück für Stück die körperlichen Fähigkeiten, wobei die geistigen eine Blütezeit erlebten; nach etwa fünf Jahren kehrte der Prozess sich um und nun wurde der Geist angegriffen. Schritt für Schritt wurde so aus einem Erwachsenen ein sabberndes, kleines Kind. Die erste Phase der körperlichen Verkümmerung nannte man die aecilibrische Phase, die zweite, während der der Geist litt, die infantile. Nach etwa weiteren fünf Jahren folgte Phase der Concidition, während der der Körper sich noch einmal vollkommen regenerierte; die meisten dachten während dieser Zeit, die Krankheit sei auf magische Weise verschwunden, aber Sirian kannte die Wahrheit, da er selbst immer noch gefährdet war. Die Krankheit verschwand nicht, niemals. Man hatte ab und an noch einen Krampf, spürte aber ansonsten davon nichts mehr … bis die Concidition schließlich begann und der Körper sich von innen heraus unter heftigen Krämpfen selbst auflöste. Die Gnadenzeit, die man nach der zweiten Phase hatte, war der Zeitraum, die die Krankheit brauchte, um im Körper die nötige Energie für den Selbstzerstörungsvorgang zu sammeln.
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