Irgendwann schaffte ich es. Der Trojaner hatte sich als Teil des Schutzwalls implementiert. Schnell deaktivierte ich ihn wieder und war riesig gespannt auf das, was da so aufwendig geschützt werden sollte. Schließlich war ich *Jack the Hacker*.
Abends startete ich dann meinen Angriff. Obwohl ich mit dem Trojaner ein Bein im Feindesland hatte, kostete es unglaubliche Mühe, in den Server einzudringen. Das einzige, was ich dort fand war ein Verzeichnis, in dem jeder Ordner wieder einzeln geschützt war. Ich fand keine Möglichkeit, auch nur einen dieser Ordner zu öffnen. Schließlich war ich mit meinem Latein am Ende. Das Einzige, was ich jetzt noch machen konnte, war, den Datenverkehr zu beobachten und auf eine Eingebung zu warten. Die kam allerdings schneller als ich gehofft hatte. In unregelmäßigen Abständen wurden kleine Datenpakete an jeden einzelnen Ordner auf den Server geschickt und die Ordner schickten eine Art Bestätigung zurück. Schnell erkannte ich, dass diese Daten die neuesten Virenkennungen waren, mit denen alle Systeme in Echtzeit aktualisiert wurden. Ich war fasziniert. Meine Hochachtung vor dem unbekannten Systemadministrator stieg rapide.
Mir war klar, dass ich nur einen begrenzten Zeitraum zur Verfügung haben würde, sobald ich den nächsten Schachzug startete. Mein Adrenalinspiegel war auf dem Höchststand. Beim nächsten ankommenden Paket kopierte ich meinen Trojaner und schleuste ihn in den erstbesten Ordner mit ein. Dort kopierte ich die erste Textdatei, die ich fand, und schickte sie mit der Bestätigungsdatei an meinen Haupttrojaner und von dort sofort nach draußen. Es gelang mir gerade noch meinen Trojaner zu deaktivieren, als der Server auch schon reagierte. Er ging komplett vom Netz. Nichts war mehr da. Als hätte es ihn nie gegeben. Sobald die Datei bei mir eingegangen war, nahm ich den Rechner, der diese Attacke ausgeführt hatte, ebenfalls vom Netz. *Jack the Hacker* hatte wieder erfolgreich zugeschlagen!
Erfolgreich? Was sollte dieser scheiß Text? Mir war zwar nicht klar, was ich erwartet hatte, aber das beste Abwehrsystem, das ich kannte, hatte ich eingesetzt, nur für so einen schwachsinnigen Spruch? Es war einfach nur frustrierend. So viel Aufwand für nichts. Selbstverständlich würde ich einen zweiten Angriff starten. Aber mein Gefühl sagte mir, dass ich besser einige Tage warten sollte. Außerdem würde ich heute Abend noch Besuch bekommen. Unser wöchentliches Treffen sollte heute bei mir stattfinden und wir planten, die Bedingungen für unseren Wettkampf heute klarzuziehen.
Kapitel 3: London - die Evanisten
„Bruder Wolfgang, was ist mit dir? So aufgeregt habe ich dich seit vielen Jahrzehnten nicht gesehen! Müsstest du dich nicht in den Katakomben bei deinen Computern aufhalten?“
„Ja Bruder Abt, eigentlich sollte ich dort sein. Ich war gerade dabei, unseren neuen Server einzurichten, da bemerkte ich, dass wir einen unerwünschten Besucher hatten. Mein erster Gedanke war natürlich, alles sofort abzuschalten. Dann hab ich’s mir aber anders überlegt. Es waren ja noch keine Daten hinterlegt, nur die Struktur war aufgebaut. Also hinterlegte ich in jedem Ordner ein relativ unwichtiges Dokument, nämlich den ersten Vers der wahren Schöpfungsgeschichte. Anschließend wartete ich ab, was sich ereignen würde. Abends kam unser Besucher wieder. Überraschenderweise gelang es ihm in relativ kurzer Zeit, unsere erste Verteidigungslinie zu durchbrechen. Wieso und warum, muss ich noch untersuchen. Bei der zweiten Linie musste er anscheinend zunächst passen. Aber Aufgeben liegt unserem Gegner wohl nicht: Mit seinem nächsten Schachzug hat er mich auf einen groben Fehler in unserem System aufmerksam gemacht. Es ist ihm tatsächlich gelungen, die Köderdatei zu kopieren, ohne dass ich seinen Standort ausfindig machen konnte. Allerdings besteht die von ihm kopierte Datei nicht nur aus Text, sondern auch aus einem riesigen Leuchtfeuer. In dem Quelltext habe ich eine Signatur versteckt, die es mir ermöglicht, die Datei oder jedwede Kopie davon wiederzufinden. Vorausgesetzt, sie taucht noch einmal im Internet auf. Wenn dieser Angriff also von den Santen oder der Kirche gestartet wurde, waren sie nicht sehr erfolgreich. Beide sind sowieso im Besitz der ersten fünf Verse. Außerdem sind wir jetzt gewarnt. Sollte aber ein uns Unbekannter dahinterstecken, wäre es durchaus wichtig herauszufinden, wer derjenige ist. Das ist meine Einschätzung der Situation. Ich hoffe, sie findet deine nachträgliche Zustimmung.“
Nach den Ausführungen Bruder Wolfgangs musste der Abt erst einmal seine Gedanken sortieren. Sollte die relativ friedliche Zeit vorbei sein? Seit nunmehr als einhundert Jahren war er für die Bruderschaft der Evanisten verantwortlich. Seine Lebensaufgabe war es, das Geheimnis der wahren Schöpfung zu bewahren. Die Bruderschaft erfüllte seit tausenden von Jahren ihre Aufgabe. In seine eigene Amtszeit fielen die beiden großen Weltkriege. Die Waffen, die die Menschheit in diesen Kriegen eingesetzt hatten, waren unvorstellbar grausam gewesen. Aber das Sakrament hatte bisher nie eingegriffen. Die Evanisten waren nicht in Gefahr geraten.
Allerdings war das auch nicht immer so gewesen: Der Dreißigjährige Krieg war für seinen Orden eine der größten Prüfungen in dessen gesamten Geschichte. Damals hatten sich die Santen und die Kirche gegen den Orden der Evanisten verbündet. Der damalige Abt, Bruder Bernando, hatte den Orden nur durch einen genialen Schachzug retten können. Allerdings kostete es ihn sein Leben und das vier weiterer, der insgesamt fünf Sakramentonen. Durch ein Versehen wurden nur Abschriften der letzten fünf Verse der wahren Schöpfung gerettet, nicht die Originale. Die ersten fünf Verse, sowie das Sakrament und die wichtigsten Artefakte konnten in Sicherheit gebracht werden. Fast alle Evanisten verloren ihr Leben. Die Bruderschaft stand kurz vor ihrer Vernichtung.
Ende des Jahres 1632 waren die kriegsführenden Parteien von erheblichen Geldsorgen geplagt. Auf Geheiß der Kirche griff ein kleines Söldnerheer unter der Führung der Santen das damalige Felsenkloster der Evanisten in den Ardennen an. Sie vermuteten unermessliche Schätze in dem Kloster. Als das Söldnerheer vor dem Kloster erschienen, zerstörte die Bruderschaft der Evanisten den einzigen Eingang in ihr unterirdisches Felsenkloster. Zwar konnten die Angreifer nun nicht ins Kloster hinein, aber die Mönche auch nicht mehr hinaus. Die Belagerung dauerte fast ein Jahr. Doch die Mönche konnten diese Zeit leicht überleben, da durch die Aura ihres Sakraments auch innerhalb des Berges Bäume und Pflanzen wuchsen, von deren Früchten sie sich ernähren konnten.
Irgendwann begannen die Angreifer damit, einen Stollen in den Berg zu treiben. Es war nur eine Frage der Zeit, dass sie auf einen Stollen des Klosters stoßen würden und damit das Kloster erobern könnten. Die Mönche waren keine Krieger und hätten den Söldnern keinen Widerstand leisten können. Das war auch dem damaligen Abt, Bruder Bernando bewusst.
Als abzusehen war, dass die Söldner nicht einfach wieder abziehen würden, suchte der Abt nach einem Weg, zumindest das Sakrament in Sicherheit zu bringen. Er beauftragte Bruder Markus, einen der fünf Sakramentonen, damit, das Sakrament und die wichtigsten Unterlagen der Bruderschaft sowie einen nicht unerheblichen Teil, des in der Tat vorhandenen weltlichen Schatzes, außer Landes zu bringen. Ein leiblicher Bruder von Bruder Markus war der Leiter eines kleinen Jesuitenklosters in London. Dorthin sollte Bruder Markus das Sakrament, mit Hilfe einiger weitere Mönche, bringen.
Durch das teils natürliche, teils künstliche Höhlenlabyrinth, das sich die Evanisten im Laufe der Jahrhunderte geschaffen hatten, konnte man bis zu einem kleinen, mit Booten befahrbaren Nebenarm der Maas gelangen. Allerdings mussten zunächst die Gänge an vielen Stellen erweitert werden, damit das Sakrament überhaupt durch die Höhlen transportiert werden konnte. So dauerte es mehrere Wochen, bis die Mönche den Höhlenausgang endlich erreichten. Die wahnsinnige Anstrengung war nur zu schaffen, weil sie durch die direkte Aura des Sakramentes im Schlaf neue Kräfte schöpfen konnten. Trotzdem überlebten fünf der insgesamt zwanzig Evanisten diesen Weg nicht. Bruder Markus schickte zwei Brüder mit einem Bittbrief nach London. Die anderen Brüder stahlen einen Kahn, beluden ihn und fuhren flussabwärts, durch die Maas, auf den Rhein, durch den Ärmelkanal auf der Themse bis nach London. Trotz der Kriegswirren kamen sie unbeschadet an ihr Ziel. Dort wurden sie von den Jesuiten bereits erwartet und endlich sicher in deren Kloster untergebracht.
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