1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 Der Prediger machte eine bedeutungsvolle Pause.
„Sie wollen Anerkennung, auf dem Siegertreppchen stehen, jemand, der ihnen auf die Schulter klopft und ihnen sagt: Du bist gut! Sie suchen einen Sinn, ein Ziel, das ihnen das Leben lebenswert erscheinen lässt. Etliche haben jedoch schon längst aufgegeben und resigniert. Sie hadern, ertränken ihre Suche, werfen sich weg, geben sich der Leere hin, sind mutlos, kraftlos, nichts gelingt ihnen, ohne innere Befriedigung gehen sie zu ihrer Arbeit, nichts trägt sie mehr, weil sie wissen, dass sie nie Anerkennung finden werden, nie auf einem Siegertreppchen stehen werden. Auch die neue Frau, der neue Mann sind schnell entzaubert. Da war ja die alte Beziehung fast noch besser! Sollen diese armen Menschen noch fünf, zehn oder zwanzig Jahre so weiterleben? Mit ihren kaputten Seelen, die nach einem Sinn schreien?“
Wieder machte der Prediger eine bedeutsame Pause.
„Sie werden keinen Sinn finden, es sei denn…“, wieder machte er Pause, „... sie bringen ihr Verhältnis zu Gott in Ordnung!“
Neumeyer stand spontan auf. Gott!? Er konnte nicht mehr hinhören. Die Worte wühlten ihn auf. Als würde jemand an seiner Maske reißen. Jeder musste seinen Sinn selbst finden, so lief das Spiel. Nicht jeder war glücklich, nicht jeder konnte Sieger sein, nicht jeder konnte toll verdienen. So what! Es stimmte, auch er brauchte Anerkennung. Das hatte er gespürt, als er seine Kinder sah. Aber er war lieber ein einsamer Wolf. Und er würde auch über mehr als genug Geld verfügen, wenn das Projekt abgeschlossen war. Wieso sollte er da was mit Gott in Ordnung bringen. So, wie es lief, war alles in Ordnung.
11. Bad Krozingen (Bundesrepublik Deutschland), Juni 1990
Am nächsten Morgen verflogen die Träume der Nacht nicht wie üblich. Ein Film wiederholte sich ständig. Er rannte mit seinen Kindern über ein Feld und dann zwischen Häusern hindurch. Hinter ihnen raste eine Feuersbrunst her. Sie waren verloren, denn vor ihnen tauchte eine Anhöhe auf. Dann wachte er schweißgebadet auf. Es war ihm nicht gelungen, seine Kinder zu retten. Er fühlte noch die Angst und Aussichtslosigkeit, schüttelte jedoch schnell die Gedanken an den Albtraum ab und konzentrierte sich auf das vor ihm Liegende. Er erinnerte sich an die neue Instruktion, für den Kontakt ab sofort ein Schließfach im Hauptbahnhof in Freiburg zu benutzen. Seinen nächsten Rapport sollte er darin hinterlegen. Er rief die Firma Kühni in Olten an. Sie tauschten nun alle notwendigen Telefon- und Faxnummern aus. Herr Kühni avisierte eine größere Bestellung. Die Lieferung erwarte er in ca. drei Wochen. Den genauen Termin würde er ihm noch mitteilen. Trotz der neuen Entwicklung fühlte Neumeyer sich unwohl, weil sich alles so lang dahinzog. Die Übernahme der Baustoffhandlung war immer noch nicht rechtskräftig abgeschlossen und die Kinder wurden weiterhin vom Vikar vertröstet. Seine Gedanken schweiften wieder ab zu dem Traum. Ein weiteres Mal ließ er den Film Revue passieren. Er spürte den Drang, seine Kinder zu beschützen. Seine Ungeduld und seine Unzufriedenheit hingen damit zusammen, dass er nicht mit ihnen zusammenleben konnte. Bis vor kurzem war er viel abgebrühter. Es gab nur das Projekt und seinen Profit, den er daraus ziehen würde. Innerhalb weniger Wochen hatte sich sein Wertesystem total verändert. Warum lösten Kinder solche Gefühle aus? Waren das die Gene? Aktivierten sie ein anderes Verhaltensmuster? Wurden Leben und die zugehörigen Gefühle so einfach gesteuert? Oder gab es einen anderen Sinn? Sinn! Er ging gestern Abend weg, weil er von niemandem einen fix und fertig vorkonfektionierten Sinn übernehmen wollte. Natürlich strebten alle Menschen nach etwas. Gaben Kinder einen Sinn im Leben? Offensichtlich kümmerte es ihn, was einmal aus ihnen würde. Aber könnte er sich wirklich um sie kümmern? Wo würden sie leben? Würde man sie verfolgen? Dieser Gedanke elektrisierte ihn, denn plötzlich sah er das Muster vor Augen. Das Vernichtungsmuster. Seit nahezu 15 Jahren diente er einer Organisation, die hinter den Kulissen skrupellos zuschlug. Er war jahrelang Zeuge, mit welcher Unerbittlichkeit man betrog, Menschen missbrauchte und Existenzen vernichtete. Notfalls wurde Leben ausgelöscht, um Ziele zu erreichen. Das galt auch für das Projekt, es durfte nie das Licht der Öffentlichkeit erblicken, man würde deshalb alle potenziellen Mitwisser gnadenlos beseitigen. Auch ihn. Die Bonzen machten sich dabei nie selbst die Hände schmutzig, aber sie ordneten die Schweinereien geschickt an. Sie zogen auch hier hinter den Kulissen die Fäden, obwohl sie abgedankt hatten. Wie konnte er so blöd sein und ihnen auch nur eine Minute vertrauen? Er musste nicht nur die Kinder schützen, sondern auch sich selbst. Wieso änderten Kinder seine Perspektive? Wieso war er so lange von blindem Gehorsam beseelt? Waren seine Entscheidungen richtig? In Wirklichkeit diente er sein halbes Leben einem skrupellosen und verbrecherischen Regime. Was würden seine Kinder später dazu sagen? Ihn verachten? Ihn einen Feigling oder einen Versager schimpfen, weil er sich nicht gewehrt und mitgespielt hat? War er ein Schlappschwanz? Wenn alles falsch war, was war dann richtig? Er dachte an das Zelt und den Prediger von gestern Abend. Dann stand sein Entschluss fest. Er fuhr nach Olten.
12. Olten (Schweiz), Juni 1990
Wieder stand er am selben Imbissstand auf der Wiese neben dem Missionszelt. Die Bedienung schaute ihn erstaunt an.
„Was darf es heute sein?“
„Wieder eine Bratwurst mit Kartoffelsalat und Cola, bitte!“
„Und, gehen Sie heute zu dem Prediger?“
„Weiß ich noch nicht!“
„Sie schämen sich, nicht wahr?“
„Das stimmt, es ist mir unangenehm.“
Die Bbedienung beugte sich über die Theke und stützte den Kopf auf das Kinn.
„Haben Sie Sorgen?“
„Wie meinen Sie das?“, fragte Neumeyer.
„Ich meine, Sie sollten nicht dahin gehen, wenn es Ihnen nicht gut geht. Dann schleichen sich die Parolen in Ihr Gehirn und plötzlich glauben Sie, jemand löst alle Ihre Probleme. Alles Blödsinn. Auf denen bleiben Sie sitzen und kriegen vielleicht noch ein paar Schwierigkeiten oben drauf.“
„Nein, mir geht es gut. Ich habe gesunde Kinder.“
„Wie viele?“
„Zwei. Zwillinge!“
„Oh! Toll. Und Ihre Frau?“
„Sie ist verstorben, schon vor fünf Jahren.“
„Das tut mir leid. Aber meine Vermutung ist doch richtig. Sie leiden und suchen Trost und Hilfe. Solche Exemplare liebt der Prediger.“
„Sie können ganz schön sarkastisch sein. Ich bin sicher, dass der Mann keiner Fliege was zuleide tut.“
„Das glaube ich auch. Aber ich meine, die Menschen enden in einer anderen Unmündigkeit. Wieder nehmen sie an, ein anderer, z. B. ein großer Manitu dort droben, wird es richten.“
„Das habe ich noch nie geglaubt. Ich will vielleicht einfach nur zuhören. Man lernt nicht aus.“
„Kommen Sie, sooft Sie wollen, an meinen Stand. Dann finde ich die Sache auch in Ordnung.“
Neumeyer lachte und begann zu essen. Verstohlen blickte er die Bedienung an. Sie war beinahe hübsch, ungefähr 30 – 35 Jahre alt. Sie machte keinen Hehl aus ihrer Sympathie für ihn. Es gefiel ihm und er lächelte ihr manchmal während des Essens zu. Hinter ihm trafen viele Autos auf der Parkwiese ein. Der Besucherstrom für die Abendpredigt setzte ein. Neumeyer wollte nicht bei den Ersten sein, er wollte lieber ganz weit hinten sitzen, um notfalls das Zelt unbemerkt wieder zu verlassen. Als er aufbrach, rief ihm die Bedienung noch einen Gruß zu, den er erwiderte. Unsicher betrat er den Zelteingang. Ein Mann stand am Eingang und schüttelte jedem Ankömmling die Hand. Vermutlich war das der Prediger. Er war ein großer, jüngerer und schlanker Mann mit einem schmalen Gesicht und gekräuselten Haaren. Er hatte markante Gesichtszüge, seine Augen strahlten und er schaute Neumeyer mit offenem Blick an. Der Prediger ergriff seine Hand und sagte: „Guten Abend, schön, dass Sie gekommen sind. Der Herr wird heute zu Ihnen sprechen. Ich hoffe, wir sehen uns noch ganz oft.“
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