„Bitte sagen Sie uns, wie es ihm geht. Wie er heißt, wo er wohnt. Können wir ihm schreiben oder ihn sogar anrufen?“, fragte Nicole.
Neumeyer sprang von der Mauer zu ihnen ins Dickicht.
„Nicht so hastig. Hier ist ein Foto von ihm. Er heißt Markus Worb und wohnt in Bonn.“
Begierig griffen die Kinder das kleine Passfoto. Ungläubig starrten sie es an.
„Wer sind Sie eigentlich?“, fragte Nicole neugierig.
„Ich habe Eurem Vater versprochen, Euch zu finden. Ich bin sein bester Freund.“
„Und wieso haben Sie DDR-Klamotten an?“, fragte Kevin unvermittelt.
„Ich kann mir halt nicht so viel leisten wie andere.“
„Wann kommt er? Wann können wir ihn sehen?“, fragte Nicole begierig.
„Kinder, Ihr müsst noch ein bisschen Geduld haben. Da gibt es nämlich noch ein Problem.“
„Oh nein, sagen Sie nicht, dass wir uns nicht sehen können!“, rief Nicole aus.
„Das ist es nicht. Euer Vater ist abgehauen in den Westen, bevor eure Mutter starb. Er bekommt deswegen immer noch Drohungen. Wir wissen nicht, woher und von wem. Vielleicht gibt es noch ein paar alte Stasisäcke, die eine alte Rechnung mit ihm offen haben. Und wir befürchten, dass die Euch auch überwachen. Die alten Seilschaften halten immer noch zusammen. Deswegen dürft Ihr Euch auf keinen Fall etwas anmerken lassen. Habt Ihr das verstanden?“
„Ja. Aber wie können wir ihn erreichen?“
„Im Moment gar nicht. Mit unbedachten Handlungen oder Äußerungen gefährdet Ihr ihn nur, solange wir nicht wissen, woher die Drohungen gegen sein Leben kommen. Deshalb habe ich mit Eurem Vater ausgemacht, dass ich Euch bald abhole. Heimlich. Dann verduften wir.“
„Flucht aus dem Heim?“, jubelte Kevin.
„Ja. Und Ihr sagt niemand ein Sterbenswort! Versprochen?“
„Zu keiner Menschenseele. Wir wollen zu unserm Vater. Und wir wollen, dass ihm nichts passiert!“, sagte Nicole trotzig.
„Noch was. Ich habe Eurem Vater versprochen, Fotos von Euch mitzubringen. Er hat Euch noch nie in seinem Leben gesehen. Bitte haltet einfach gegenseitig dieses weiße Tuch hinter Euren Kopf und dann mache von jedem ein paar Fotos.“
Die Kinder machten begeistert mit. Neumeyer verbrauchte einen ganzen Kleinbildfilm.
„Ich halte Kontakt zu Euch über den Vikar. Geht einfach ab und zu in die Kirche, das ist am Unauffälligsten. Der Vikar ist teilweise eingeweiht. Wenn Euch der Vikar ein konkretes Datum für ein neues Treffen mitteilt, dann ist das der entscheidende Code. Er beutet: Es ist soweit. Wir türmen. Verratet kein Sterbenswort an den Vikar über unsere Fluchtpläne. Und zur Absicherung müsst ihr Euch noch einen zweiten Code merken. Wenn ich dem Vikar ein Datum für ein Treffen vorschlage, dann nenne ich die Kirche als offiziellen Treffpunkt. Aber in Wirklichkeit treffen wir uns hier am selben Platz und um dieselbe Zeit. Ihr dürft nichts mitnehmen. Niemand darf ahnen, dass Ihr abhaut. Und zuletzt ein dritter Code: Unser Treffen findet in Wirklichkeit drei Tage vor dem offiziell genannten Termin statt. Damit verhindern wir, dass unsere Pläne scheitern, falls der Vikar etwas weitererzählt. Bei so einer wichtigen Angelegenheit darf es nur vier Eingeweihte geben. Ich, Euer Vater und Ihr beide.“
Die beiden waren begeistert von den geheimnisvollen Codes.
„Kommt unser Vater auch mit, wenn Sie uns abholen?“
„Wahrscheinlich ist er auch dabei.“
Nicole machte einen Freudensprung.
„Meinen Sie, wir können dann bei ihm leben?“
„Ich bin ziemlich sicher, dass er Euch bei sich haben will.“
„Hat er eine neue Frau?“, wollte Nicole wissen.
„Nein, er lebt alleine, er hat nie geheiratet.“
„Nicole, wir müssen gehen, es ist spät und bald ist Kontrolle“, sagte Kevin.
„Ich wünsche Euch alles Gute, bitte seid vorsichtig“, bat Neumeyer.
„Wird gemacht. Heute ist für uns der schönste Tag in unserm Leben“, sagte Nicole.
Neumeyer machte einen Spaziergang zurück zur Straße. Dann entdeckte er das Auto des Vikars. Er ging darauf zu. Der Vikar öffnete die Beifahrertür.
Neumeyer ließ sich auf den Beifahrersitz plumpsen.
„Und, haben Sie die Kinder gesehen?“, fragte der Vikar.
Ja, natürlich und ich habe ihnen versprochen, dass ihr Vater sie irgendwann besuchen kommt. Da er offiziell die Kindschaft der beiden nie anerkannt hat und außerdem Republikflüchtling ist, sollte man das Treffen mit ihm und den Kindern eventuell lieber unter den Schutz ihrer Kirche stellen?“, fragte Neumeyer. „Man weiß ja nie!“
„Natürlich, das ist nur logisch. Ich helfe gerne. Ich bin froh, dass die Kinder wieder eine Perspektive haben. Wissen Sie, das gibt jungen Menschen Mut und Zuversicht und genau das brauchen wir heute dringender denn je.“
8. Müritzsee (Deutsche Demokratische Republik), Juni 1990
Die beiden älteren Herren genossen den Blick auf den Müritzsee. Das Licht der untergehenden Sonne spiegelte sich im Wasser und tauchte die Glasfront des großen Wohnzimmers in einen rötlichen, warmen Glanz. Die Tür zum Wohnzimmer öffnete sich. Eine vornehm aussehende ältere Frau steckte den Kopf durch die Tür.
„Abendessen in zwanzig Minuten.“
„Danke, Trudchen. Es riecht auch schon verlockend im ganzen Haus“, rief der dickere der beiden Männer seiner Haushälterin zu.
Beide rauchten ihre Zigarre und saßen sich in großen, hohen Sesseln gegenüber.
„Hast Du was von Neumeyer alias Wagner gehört?“
„Nein, er ist wie vom Erdboden verschluckt!“
„Dann war unser ganzes Vertrauen in Wagner umsonst?“
„Das glaube ich nicht! Wagner muss eine Menge Vorbereitungen treffen. Das macht er alles im Verborgenen. Und wenn wir noch nichts von ihm gehört haben, dann ist das kein Grund zur Beunruhigung. Wir haben ein Schema, wie wir mit ihm kommunizieren. Es geht über einen toten Briefkasten. Den ersten Rapport erwarten wir in exakt einer Woche.“
„Und was ist, wenn er sich nicht meldet? Was ist, wenn er eine Schweinerei versucht?“
„Wir haben Druckmittel, damit das nicht vorkommt.“
„Oh! Und die wirken?“
„Das Leben seiner Kinder steht auf dem Spiel und das weiß er.“
„Kann er sie denn nicht beschützen oder wegschaffen?“
„Nein, das ist ganz unmöglich, er kennt sie nicht und weiß auch nicht, wo sie leben.“
„Wieso das?“
„Er wusste nicht, dass er Kinder hat. Sie sind das Ergebnis einer Romanze. Die Frau hat es ihrem Gatten gebeichtet, kurz bevor sie an Krebs verstarb. Wir haben das für uns behalten und ihn erst kürzlich darüber informiert.“
„Könnte er nicht versuchen, nach seinen Kindern zu suchen?“
„Und dann, wenn er sie gefunden hat? Er hat keine offizielle Vaterschaft, er kann nicht in das Heim spazieren, in dem sie unter Aufsicht leben und sie mitnehmen. Wir haben unsere Leute im Heim, die die Kinder und alle Besucher genau beobachten. Beim geringsten Verdacht werden sie sofort verlegt.“
Beide pafften und schauten in den Sonnenuntergang.
„Darfst Du auch nur unter Aufsicht telefonieren?“
„Dieser Hausarrest ist eine Schande. Was haben wir angestellt? Man kann uns nicht ins Gefängnis stecken, das wird keiner schaffen, weil wir nie etwas verbrochen haben. Und Hausarrest gibt es eigentlich im DDR-Rechtskodex nicht. Es ist völlig illegal, was man mit uns macht. Trotzdem kann ich mit meinen Leuten auf eigenen Wegen kommunizieren. Dieses Haus ist löchrig wie ein Schweizer Käse.“
„Meinst du, Wagner schafft das Projekt?“
„Wenn es einer schafft, dann er.“
„Und wenn er später die Geschichte ausposaunt?“
„Es gibt für ihn kein Später, das Geld hat ihn blind gemacht.“
9. Berlin-West (Bundesrepublik Deutschland), Juni 1990
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