Also lag sie in Leipzig begraben. Unvorstellbar, dass dieses blühende Leben, diese quirlige junge Frau nicht mehr lebte. Ihm war wieder flau im Magen. Jetzt realisierte er, dass er seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Er lief zum Hauptbahnhof und kaufte sich eine Fahrkarte nach Leipzig und ein belegtes Brötchen. Die kleine Reisetasche holte er bei der Gepäckaufbewahrung ab. Geld hatte er genug. Inmitten seiner wenigen Habseligkeiten, die man ihm in Hohenschönhausen aushändigte, lag auch ein Schließfachschlüssel. Das Schließfach enthielt einen Umschlag. Dieser enthielt seinen namentlichen Zugang zu einem Konto bei der Basler Kantonalbank. Das Konto für das Projekt. Jeden Pfennig, den er für das Projekt ausgab, musste er belegen. Das alte Misstrauen. Und dann enthielt das Schließfach noch einen zweiten Umschlag. Darin lag sein persönliches Bargeld. Zweihundert Tausend Deutsche Mark in kleinen, gebrauchten Scheinen. Beide Umschläge hatte er sofort in einem anderen Schließfach im Bahnhof Zoo verstaut. Der Zug hatte Verspätung, das störte niemand. Ohne weitere Ansage fuhr der Zug mit einer halben Stunde Verspätung nach Leipzig ab.
6. Leipzig (Deutsche Demokratische Republik), Mai 1990
Den tristen Hauptbahnhof ließ er schnell hinter sich. Für einen Besuch der Friedhöfe war es zu spät. Direkte Erkundigungen bei staatlichen Stellen würden Spuren erzeugen. Telefonbücher halfen auch nicht weiter, denn Monika hatte mit Sicherheit ihren Familiennamen gewechselt. Falls der Friedhofbesuch morgen zu nichts führte, würde er ein Tageszeitungsarchiv durchpflügen. Vielleicht stieß er auf eine Todesanzeige. Angehörige pflegten oft den Geburtsnamen einer gestorbenen Frau zu erwähnen. Auch das Nachtquartier durfte keine Nachprüfung nach sich ziehen. Er klingelte am Pfarrhaus der Nikolaikirche. Eine ältere Dame öffnete. Neumeyer bat höflich um eine Empfehlung für ein kostenloses Nachtquartier. Das wurde ihm prompt gewährt. Er durfte im Gästezimmer übernachten und genoss die Annehmlichkeiten einer Dusche. Es folgte der Ruf zum Abendessen. Zu seiner Verwunderung saßen die Haushälterin und ein junger Vikar bereits bei Tisch. Beide erkundigten sich vorsichtig nach seinen Verhältnissen, worauf er nur erwähnte, dass er auf der Suche nach dem Grab einer lieben Freundin sei. Spontan erklärte sich der Vikar bereit, ihn bei der Suche zu unterstützen. Neumeyer bedankte sich, betonte aber, dass er es gerne alleine versuche. Diese Nacht schlief er traumlos. Das Frühstück, das man ihm bot, glich einem Wunder. Um neun Uhr morgens stand er bereits vor dem Zentralfriedhof. Ein alter Mann in einer undefinierbaren Uniform öffnete die schmiedeeisernen Tore.
„Kann ich Ihnen weiterhelfen, junger Mann?“, fragte er.
„Ja, ich suche das Grab einer Frau, die 1984 starb. Ihr Vorname war Monika und ihr Mädchenname war Dessler. Sie wohnte zuletzt in Leipzig und wurde in Leipzig begraben.“
„Da kommen Sie mal mit, junger Mann. In den Büchern des Friedhofs sind alle Verstorbenen verzeichnet. Das ist Vorschrift, weil manche ja kein Grab wünschten, sondern die Einäscherung. Nicht alle Urnen haben eine Inschrift, manche sind anonym vergraben. Nur wir von der Friedhofsverwaltung wissen, wo sie liegen. Kommen Sie mit, wir finden Ihre Bekannte.“
Der alte Mann war offensichtlich froh, dass er so früh morgens schon Gesellschaft bekam. Freudig erregt eilte er mit Neumeyer zu einem großen Gebäude, das von drei Seiten mit Säulen umgeben war. Unterwegs winkte er zwei Arbeitern zu, die gerade ein neues Grab aushoben.
Das Inventar des großzügigen Büros war museumsreif. Die riesigen Kladden, die in einem überdimensionalen Regal standen, fielen Neumeyer sofort auf.
„1984 sagten sie? Und wie lautet der Name?“
„Mit Vornamen hieβ sie Monika und der Mädchenname lautete Dessler. Ihren letzten Familiennamen kenne ich leider nicht.“
„Die Verstorbene finden wir, hier geht keiner mehr verloren.“
Er kicherte kurz über seinen Witz und begann, eine der Kladden blitzschnell abzusuchen.
„Hier im April gibt es eine Monika Hauptmann … aber keine geborene Dessler. Ich schaue weiter …“
Hoch konzentriert überflog er alle Einträge.
„Da!“, rief er plötzlich aus. „Grab 436. Monika Wagenbach geborene Dessler. Sie wurde am 17. März begraben. Soll ich Sie zu dem Grab begleiten?“
Das schnelle Ergebnis überrumpelte Neumeyer. Würde er das durchstehen? Wissend, dass diese wunderschöne Frau vielleicht auf schreckliche Art zu Tode gekommen war und jetzt nur noch ihre Knochen in zwei Meter Tiefe herumlagen? Konnte er den Traum an sie bewahren?
„Ja, zeigen Sie mir das Grab“, presste er heraus.
Der alte Mann merkte, wie Neumeyer mit sich kämpfte.
„Der Tod, junger Mann, ist noch nichts für Sie. Der ist noch weit weg in Ihrem Leben. Ich dagegen muss mich schon darauf vorbereiten. Und das geht hier besser als irgendwo anders. Der Tod bedeutet das Ziel unseres Lebens. Aber das verstehen Sie noch nicht. Kommen Sie. Ich rede auch nichts mehr Törichtes!“
Schweigend geleitete ihn der alte Mann zum Grab 436. Ein matter, schwarzer Grabstein ohne Schnörkel mit eingraviertem Kreuz und verwitterter Goldschrift: Monika Wagenbach, geb. 1953, gest. 1984. Der alte Mann wandte sich ab und ließ ihn allein. Hier war die Mutter seiner Kinder begraben. Es gab keine Gelegenheit mehr, mit ihr zu reden. Es gab keine Verbindung. An ein Jenseits glaubte er nicht, er begriff die Endgültigkeit, wenn etwas nicht mehr ist. Er dachte an die Worte des alten Mannes … das Ziel des Lebens ist der Tod … sein Ziel war es nicht! Er wollte leben und seine Kinder kennen lernen. Sie waren sein Leben.
Bald darauf fand er auch die Todesanzeige in der Zeitung. Und sie war aufschlussreich. Als Trauernde nannte die Anzeige ihre Eltern, ihren Mann und die Namen dreier Kinder. Sie erboten einen letzten Gruß zu Ehren ihrer Mutter. Zwei davon mussten die Zwillinge sein. Aber woher bekam er die Adresse der Verstorbenen? Wo mochten die Kinder sich heute aufhalten? Das örtliche Telefonbuch enthielt siebzehn Wagenbachs. Notgedrungen musste er sie alle anrufen. Abgehört würde wahrscheinlich nicht mehr systematisch. Er notierte alle Telefonnummern sorgfältig mit Adresse und besorgte sich Kleingeld. Für die ersten zehn Anrufe benötigte er über eine Stunde. Fast alle Wagenbachs nahmen den Anruf entgegen. Er gab sich als Vater eines Schulfreundes der Zwillinge aus, der wegen einer bevorstehenden Geburtstagsfeier anrief. Bis jetzt waren allen Angerufenen Zwillinge unbekannt. Der Adressat in der Inselstraße meldete sich. Neumeyer grüßte höflich und trug erneut seinen Wunsch vor. Sofort traf ihn eine wütende Erwiderung.
„Warum belästigen Sie mich?“ schrie eine Männerstimme. „Die Scheißzwillinge haben mir mein Leben kaputt gemacht. Fragen Sie doch die Jugendwohlfahrt, dort sind sie auch aufgewachsen. Was geht mich diese Brut an? Wagen Sie es nicht, hier noch einmal anzurufen!“
„Vielleicht habe ich die Namen der Kinder verwechselt“, antwortet Neumeyer hastig, „wie heißen denn Ihre Zwillinge?“
Neumeyer blieben die Worte fast im Hals stecken.
„Was fragen Sie so blöd? Nicole und Kevin heißen die Bälger. Und jetzt reicht’s mir!“ blaffte der Angerufene und unterbrach die Verbindung.
In Neumeyers Kopf drehte sich alles. Jugendwohlfahrt? Die betreiben Kinderheime. War es möglich, dass seine Kinder in einem Heim aufwuchsen? Mutterseelenallein? Neumeyer spürte einen Kloß im Hals und schluckte. Er rechnete noch einmal nach: Die Kinder kamen 1976 zur Welt. Also waren sie jetzt dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Sie lebten wahrscheinlich in einem Kinderheim. Er ging zurück zur Nikolaikirche. Leise öffnete er die schwere Tür und lief auf leisen Sohlen ganz nach vorne. Etliche Menschen saßen in Stille vertieft in den Bänken. Er setzte sich in die zweite Reihe. Es roch nach altem Holz und Bohnerwachs und man hörte nur den leisen Widerhall des Lärms, der außen auf die dicken Mauern traf. Zum ersten Mal in seinem Leben war Neumeyer zum Losheulen zumute. Er war überwältigt von dem Gefühl, dass seine Kinder ihn brauchten. Und er wusste nicht, wo sie waren. In diesem Augenblick betrat der Vikar die Sakristei. Neumeyer folgte ihm und klopfte vorsichtig an die Tür.
Читать дальше