Er durfte heute Morgen nichts essen. In wenigen Stunden würden Ärzte sein Aussehen verändern, seine Nase würde schmäler und die Stirn etwas höher, das Kinn würde markanter hervortreten und die Augen durch die Lidkorrektur größer erscheinen. Er würde in Zukunft die Haare länger tragen, nicht mehr militärisch kurz. Linsen würden seine grüne Augenfarbe ins Bräunliche verändern. Sein grauer, abgewetzter Koffer stand im Flur mit seiner ganzen Habe. Sein bisheriges Leben, sein Name, seine gesamte Existenz würde in wenigen Stunden ausgelöscht sein. Er würde einfach von der Bildfläche verschwinden. Niemand würde ihn vermissen. Noch nie hatte ihn jemand vermisst. So auch diesmal nicht. Sein Ableben stand endgültig bevor. Offiziell würde er durch Selbstmord enden. Das führte immerhin zu einer Aktennotiz. Seine letzte Spur führte dann ins Krematorium. Der Staat spendierte Selbstmördern keinen Grabstein und keine Urne. Die Asche würde als verschollen gelten. Und mit ihr alle offiziell unnötigen Dokumente über ihn, wie Fingerabdrücke, Fotos, Handschriftliches. Alles würde aus den Akten getilgt. Sein unwichtiges Leben würde keine Spuren hinterlassen. Jede intensive Recherche würde ergebnislos abgebrochen. Er verabschiedete sich innerlich von dem alten Leben und von dem alten Hermann Wagner. Er weinte der Vergangenheit keine Träne nach. Auch nicht, als er damals hörte, dass seine Eltern gestorben waren. Aber die Fotos seiner beiden Kinder hatten ihn aufgewühlt bis ins Mark. Bis vor Kurzem hatte er nicht die Spur einer Ahnung, dass aus seiner Affäre mit Monika zwei Kinder hervorgegangen waren. Die Erinnerung an Monika war damals schnell verblasst. Zwillinge. Dreizehn Jahre alt. Der Junge sah ihm ähnlich. Seine Gedanken kreisten ständig um die Fotos. Die beiden Gesichter hatten sich unauslöschlich eingraviert. Die vor ihm liegende Operation konnte diese Gedanken nicht verdrängen. Er fühlte eine klammheimliche Freude, dass weder Ärzte noch Bonzen in sein Gehirn hineinsehen konnten. Sie ahnten nicht, was sie angerichtet hatten. Jetzt enthielten sie ihm seine Kinder vor und bildeten sich allen Ernstes ein, er würde sich nicht trauen, nach seinen Zwillingen zu suchen, solange er seinen Teil des Vertrages nicht vollständig erfüllt hatte. Sein perfider Befehlshaber hatte ihm beiläufig bei einer Lagebesprechung die Fotos der beiden Kinder mit kaum zu verbergender Schadenfreude vor die Nase gehalten und ihn in bravem Amtsdeutsch in Kenntnis gesetzt, dass seine Romanze mit der Studentin damals nicht folgenlos geblieben sei. Sie hatten eine Schwachstelle bei ihm gefunden, von der sie glaubten, er würde sich noch bedingungsloser für das Projekt einsetzen. Dann steckte sein Befehlshaber die Fotos wieder ein. Aber er würde die Kinder finden. Er würde um sie kämpfen, bevor ihn die Bosse betrogen. An Letzterem bestand für ihn kein Zweifel. Aber er musste seinen Vertrag erfüllen, um die Zukunft der Kinder abzusichern und um ihr Leben nicht aufs Spiel zu setzen. Seine Hand bewegte sich automatisch zum alten Kofferradio, Westmarke. Es war kurz vor neun Uhr morgens. Die Nachrichten würden in wenigen Minuten gesendet. Der lösliche Kaffee, ebenfalls Westmarke, schmeckte fürchterlich und er kippte den Rest ins Spülbecken. Der Sprecher im Radio kündigte die Neunuhrnachrichten an.
2. Berlin-Ost (Deutsche Demokratische Republik), April 1989
Hermann Wagner hatte die OP-Vorbereitung hinter sich. Er lag alleine in einem fensterlosen Raum und starrte an die graubraune Decke. Selbst die nackte Glühbirne strahlte graubraunes Licht aus. Bald würde die Narkose vorbereitet. Aus den Augenwinkeln bemerkte er, wie sich die Tür öffnete. Ein Gesicht schaute hinein. Der Chef. Der Boss. Das höchste Tier, das er kannte. Schnell schlüpfte die massige Gestalt in das Krankenzimmer. Wagners Geist schaltete auf Willfährigkeit um. Alle Bürger dieses Staates wurden mit diesem Schalter im Gehirn geboren und benutzen ihn, ohne dass sie je über seine Beschaffenheit näher nachgedacht hätten. Wagner hatte dies als Jugendlicher erkannt. Linientreue und Staatsbejahung waren eine anerzogene Rolle. Diese Maske wirkte wie ein geistiges Präservativ. Sie behütete die erwachende Vernunft vor unkontrollierten Ausbrüchen. Er lernte die Maske abzunehmen und wieder anzulegen, gerade wie es ihm passte. Niemand bemerkte es, wenn er seinem Geist freien Lauf ließ. Er genoss die Ausflüge. Macht und Angst hielten diesen Staat zusammen. Wer klug war, trug die Staatsmaske nur zum Schein, man spielte mit und lernte schnell, wie man durch deren geschickten Gebrauch in den Genuss von Vorzügen und Privilegien kam oder über andere herrschte. Nur Dummköpfe hielten die Maske für ihr Gesicht. Darunter wohnte kein Geist mehr, sondern lediglich der gebrochene Wille zum unbedingten Gehorsam. Ohne diese willfährigen Parteisoldaten wäre der Staat unkontrollierbar gewesen. Wagner hatte seine Fähigkeit zu diesem unmerklichen Doppelleben zur Perfektion entwickelt. Selbst kluge, einflussreiche und hochgestellte Persönlichkeiten hielten ihn für einen treuen Vasallen. So auch S. G.
Wagner gab jedem Bonzen eine Abkürzung. Nur dadurch gelang es ihm, sie heimlich der menschlichen Existenz zu berauben. S. G. strahlte eine fast väterlich wirkende Aura aus. Edel geschliffene Manieren und seine Fähigkeit, sein Verhalten akribisch zu kontrollieren, führten dazu, dass die meisten Menschen, denen er begegnete, ihn für einen harmlosen, gut erzogen und gebildeten älteren Herrn hielten. Ja, einen wahren Gentleman.
„Mein lieber Wagner“, posaunte der Hüne, „Ihr letztes Stündlein hat geschlagen, was?“
„Ich nehme es gelassen. Was gebe ich schon auf? Ich tu es für mein Land, Herr Minister.“
„Na ja, Sie bekommen auch was dafür. Oder? Und zwar keine Kleinigkeit!“
„Dazu sag ich auch nicht nein. Wichtiger ist aber, dass ich das Projekt ordentlich abschließe.“
S.G. setzte sich auf den zerbrechlich wirkenden Stuhl vor dem Bett und beugte sich ganz nah an Wagners Gesicht.
„Sie schaffen es. Alle Vorbereitungen sind abgeschlossen. Ihre Legende steht. In Hohenschönhausen wartet eine freie Zelle. In ungefähr vier Wochen ziehen Sie als Politischer ein. Ich gebe uns nicht mehr lange, dann wird die erste Garde abdanken müssen. Dann beginnt Ihr Job, mein Freund. Und Sie wissen, um was es dabei für uns alle geht. Und für Sie!“
Wagner bemerkte den drohend beschwörenden Unterton. Aber er gab sich unbeeindruckt.
S.G. fuhr fort: „Ich habe mir Ihren neuen Namen schon so gut gemerkt, dass ich Ihren alten heute Morgen bereits vergessen hatte.“
„Wenn ich aus der Narkose aufwache, bin ich Walter Neumeyer. Ich sitze wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt und Vorbereitung meiner Republikflucht seit sechs Jahren hinter Gittern. Ich, Sie, wir alle rechnen damit, dass ich irgendwann freikomme.“
„Die Geschichte hat sich von uns abgewandt, mein Freund. Unsere Brudervölker verraten die sozialistische Sache scharenweise und biedern sich den Kapitalisten an. Unser großer Verbündeter lässt uns fallen. Sogar der Schießbefehl an unserer Mauer, der uns erlaubte, den Klassenfeind jahrelang erfolgreich abzuwehren, wurde ausgesetzt. Uns bleibt keine andere Wahl. Wir müssen das Projekt durchführen, damit wir von den Früchten ernten, die wir gesät haben. Wenn ich schon gezwungen bin, den Zerfall dieses Staates mitzuerleben, und wenn es mir vergönnt sein sollte, die Abrechnung der Massen einigermaßen unbeschadet zu überleben, dann wollen ich und meine Getreuen wenigstens im Alter gut leben.“
S. G. erhob sich.
„Wir vertrauen Ihnen und sind Ihnen gleichzeitig ausgeliefert. Wagner, ich zähle auf Sie“, sagte er zum Abschied und verschwand, ohne sich noch einmal umzusehen.
Wagner war froh, wieder allein zu sein. Merkwürdig: Ihm war überhaupt nicht bange, wenn er daran dachte, was vor ihm lag, er wusste plötzlich, für wen er das alles machte. Früher konnte er sich einfach nicht vorstellen, dass sich das Lebensgefühl ändert, wenn man Kinder hatte. Jetzt wusste er, worüber seine Kollegen immer sprachen. Sie hatten ein Ziel. Einen Sinn. Dieses neue Denken überflutete ihn und ließ ihn eine bisher unbekannte Hoffnung spüren.
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