Hermann Wagner alias Walter Neumeyer hatte endlich seinen ersten Rapport fertig geschrieben. Im Eiltempo war er mit einem Mietwagen nach Basel gefahren und hatte bei der UBS-Bank ohne irgendwelche Probleme 500.000 Schweizer Franken in bar abgehoben. Er mietete sich in Freiburg eine kleine Wohnung und richtete sich ein Büro mit der notwendigen Infrastruktur ein. Es gehörte zum Projekt, dass er irgendwo in Südbaden eine kleine Baustoffhandlung kaufen sollte. Es gab in der BRD drei große Makler, die sich auf den Verkauf kleinerer und mittelständischer Firmen spezialisiert hatten. Innerhalb weniger Tage lagen ihm fünf Offerten für Baustoffhandlungen auf dem Tisch. Diesen Vorgang schilderte er in seinem ersten Rapport als sehr mühselig und schleppend. Die Übergabe des Rapports erfolgte in Berlin. Er musste ihn einfach an einer festgelegten Adresse in einen Briefkasten mit dem Namen Medrow werfen. Seine geheime Post empfing er wiederum in einem Schließfach am Hautbahnhof. Sofort hatte er geheime Kanäle ausfindig gemacht und neue Pässe für seine Kinder in Auftrag gegeben. Niemand stellte in diesen Kreisen dumme Fragen, solange Preis und Qualität stimmten. Seit Tagen wartete er auf das Signal, dass die Pässe fertig waren. Endlich erhielt er eine Botschaft, Treffpunkt war ein vornehmes Lokal in Wedding. Sein Vorurteil über schräge Typen verflog im Nu, als zwei ganz normal aussehende, junge Männer im Lokal erschienen und sich zu ihm an den Tisch setzten. Sie tranken nur einen Kaffee und die Parteien überreichten sich gegenseitig ihre kleinen Umschläge. Das Ergebnis war von höchster Qualität. Wichtig war, dass die Kinder Deutschland unbehelligt verließen. Er übermittelte dem Vikar regelmäßig Grüße an die Kinder. Dieser berichtete ihm, dass beide jetzt einmal in der Woche in die Kirche kamen.
Das Projekt verurteilte ihn zum Abwarten. Die Bonzen hatten ihn keineswegs vollkommen in den zeitlichen und logistischen Ablauf eingeweiht. Die heimlichen Hintermänner des Projektes lieferten immer nur so viel Wissen und Information, um den nächsten Schritt auszuführen.
10. Olten (Schweiz), Juni 1990
Sein nächster Besuch des Schließfachs enthielt die genaue Anweisung für den Kauf einer Baustoffhandlung in Bad Krozingen. Die juristische Abwicklung des Firmenkaufs würde ungefähr vier Wochen in Anspruch nehmen. Dann war er Besitzer eines kleinen Industrieareals mit ein paar Angestellten und vier großen Lkws, Marke Mercedes Actros. Weiterhin erhielt er die Instruktion, Kontakt herzustellen mit einer Baustoffhandlung in Olten in der Schweiz. Sein Ansprechpartner, ein Herr Kühni, wartete bereits auf seinen Anruf. Neumeyer hatte zuvor die Telefonnummer über die internationale Auskunft überprüft. Man tauschte nur wenige Höflichkeiten aus, Herr Kühni hoffte auf gute Zusammenarbeit. Nach dem Telefonat verspürte Neumeyer das dringende Bedürfnis, die Baustoffhandlung persönlich in Augenschein zu nehmen. Er fuhr am späten Nachmittag nach Olten und mithilfe des Stadtplans fand er zügig das angegebene Industriegebiet und die Firma. Es erschien eine große, moderne Halle in einem umzäunten Gelände. An den Wänden und neben der Einfahrt prangten das übergroße Logo und der Firmenname. Im Freien lagerten sauber angeordnete Baustoffe auf großen Paletten: Steine, Rohre, Kübel, Hölzer …
Neumeyer verspürte Hunger, und nachdem er unauffällig das Firmenareal fotografiert hatte, entschloss er sich, den Imbiss aufzusuchen, an dem er zufällig am Rande des Industriegebietes vorbeigefahren war. Beim Aussteigen fielen ihm die vielen auf der Wiese geparkten Fahrzeuge und ein großes Zelt auf, das in einigem Abstand zu den geparkten Autos aufgebaut war. Gesang tönte herüber, während er das dürftige Speisenangebot, das mit Kreide auf eine Tafel neben dem Imbissstand geschrieben war, ratlos studierte. Die Besitzerin im Imbissstand sprach ihn an.
„Was darf es denn sein?“
„Geben Sie mir eine Cola und eine große Bratwurst mit Kartoffelsalat.“
„Kommt sofort. Macht fünf Franken neunzig.“
„Ich habe nur Deutsche Mark.“
„Dann macht es genau vierfünfzig, bitte“, antwortete die Bedienung, ohne lange zu rechnen.
Immer wieder drehte er den Kopf zu dem Zelt, aus dem der seltsame Gesang ertönte.
„Die missionieren wieder“, erklärte die Bedienung.
„Was macht wer, bitte? Ich bin nicht von hier“, antwortete Neumeyer verblüfft und biss in die Wurst.
„Das ist so ein christlicher Verein, die singen und beten und wollen die Leute bekehren.“
„Aber gibt es hier keine Kirchen?“
„Das hat damit nichts zu tun. Diese Frommen nehmen alles viel ernster und leben eben auch im Alltag viel frommer als die anderen Menschen. Die machen alles so, wie es in der Bibel steht. Ich finde das übertrieben, wenn man vorgeschrieben bekommt, wie man zu leben hat. Und wozu das alles? Nur, damit man in den Himmel kommt? Quatsch, den gibt es sowieso nicht. Die werden sich noch wundern, wenn sie gestorben sind.“
Sie lachte herzhaft über ihren Witz. Der Gesang verklang und jetzt hörte man eine sehr entschlossene und dennoch sanfte Stimme.
„Das ist wieder der Prediger. Jeden Abend spricht der über eine halbe Stunde. Heute erzählt er über den Sinn des Lebens.“
„Woher wissen Sie das so genau?“
„Überall verteilen die ihr Programm. Hier habe ich noch welche im Papierkorb liegen. Die Veranstaltung zieht sich die ganze Woche hin, dann packen sie und bauen das Zelt im nächsten Ort wieder auf.“
Die Bedienung bückte sich und tauchte mit einem bunten Faltblatt in der Hand wieder auf. Sie hielt es Neumeyer hin, der es ihr abnahm und neben sich auf den Tisch legte. Er las die Themen der Woche: „Wenn die Schuld Dich erdrückt!, Wann warst Du das letzte Mal richtig glücklich?, Auf der Jagd nach dem Sinn des Lebens!“ Jetzt nahm die Stimme des Predigers eine beschwörende Tonlage an.
„Und ist es immer voll?“
„Sie sehen die vielen Autos. Dieses Jahr ist es ein Hit. Der Prediger, so sagten es mir schon viele Kunden, sei toll und man habe bereits nach einmal Zuhören das Gefühl, es gehe einem besser. Ich freue mich, weil mein Geschäft nach den Veranstaltungen noch mal richtig brummt. Sonst hätte ich schon längst geschlossen.“
„Und was für Leute gehen da hin?“, wollte Neumeyer wissen.
„Alle möglichen. Ich kenne Geschäftsleute, auch einige Eltern aus der Klasse meiner Kinder habe ich schon gesehen, manche sind zufällig da. Da gibt es keine Regel.“
Neumeyer aß alles auf, bedankte und verabschiedete sich. Eigentlich hatte er nichts mehr Besonderes vor. Er hörte dem Prediger aus reiner Neugier zu. Um sich keine Blöße gegenüber der Imbissbedienung zu geben, fuhr er den Wagen auf die andere Seite der Wiese. Vielleicht konnte er von dort etwas mithören. Das Areal war schnell umrundet und ein Parkplatz war schnell gefunden. Allerdings drangen bis hierher nur undeutliche Wortfetzen. Deshalb spazierte er näher heran und fand eine Sitzbank am Wegrand, auf der er sich niederließ.
„Unermüdlich jagst Du nach immer mehr“, tönte die Stimme aus dem Zelt. „Unaufhaltsam steigern sich Deine Bedürfnisse: noch ein größeres Auto, noch ein größeres Haus, noch mehr Geld! Und warum das alles? Es ist heute modern geworden, auch den Mann oder die Frau auszuwechseln, weil man unzufrieden ist. Ehe mit Rückgabegarantie. Und wozu das alles?“
Der Prediger konnte seine Stimme geschickt einsetzen und er spielte mit der Betonung und der Länge der Worte. Unwillkürlich hörte auch Neumeyer weiter zu.
„Einer erbringt große sportliche Leistungen und opfert jede freie Minute seines Lebens, um dem Siegertreppchen einen Schritt näher zu kommen. Ein anderer geht in seinem Beruf auf, er verlässt nie mehr sein Büro. Wozu das alles? Was suchen diese Menschen? Was treibt sie?“
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