15. Grenzübergang Weil am Rhein (Bundesrepublik Deutschland), Juli 1990
Die Fahrt zur Schweizer Grenze nahm den ganzen Tag in Anspruch. Die Lenkzeiten am Steuer hielt er trotzdem peinlich genau ein. Er konnte sich eine Beanstandung nicht leisten. Gegen siebzehn Uhr nachmittags erreichte er den Grenzübergang in Weil am Rhein. Die Abfertigungsschlange der Lastwagen war nur kurz. Er rechnete deshalb im Höchstfall mit einer Stunde Wartezeit. Langsam rückte der LKW der Abfertigung näher. Die Papiere zeigten einen Transport von Baumaterial von Bad Krozingen nach Olten. Mengen, Preise und Steuern für den Export der Ziegelsteine waren in den Zollpapieren aufs Genauste deklariert. Die Tachoscheiben der vergangenen zwei Tage hatte er gegen fingierte Exemplare ausgetauscht, die viele kurze Fahrten enthielten. Auch der Abgleich der Angaben mit dem Kilometerzähler stimmte wieder überein und würde einer Kontrolle standhalten. Die Lieferung von Baumaterial in die Schweiz war keine normale Angelegenheit. Strenge Importvorschriften bremsten den freien Handel. Zu den Ziegelsteinen mussten Zertifikate vorgelegt werden, dass sie alle Anforderungen, die Schweizer Behörden an solche Baumaterialien stellten, einhielten. Diese Prüfungen waren bereits alle in der Vergangenheit in der Schweiz erfolgt. Neumeyer erwartete deshalb keine außergewöhnlichen Fragen durch die Grenzbeamten. Endlich konnte er in den Abfertigungscontainer. Dicke Scheiben mit Schlitzen darunter reihten sich nebeneinander. Aber nur zwei Schalter waren besetzt. Wortlos schob Neumeyer die Papiere durch. Der Beamte riss die für die Behörde vorgesehenen Doppel ab. Er prüfte die Vollständigkeit der Unterlagen, ohne jemals aufzublicken. Die Unterlagen wurden gestempelt. Dann murmelte er ihm einen Betrag zu. Neumeyer zahlte. Der Beamte quittierte. Die Unterlagen wanderten in einen Aktendeckel und landeten auf einer Ablage. Die eigentliche Kontrolle stand noch bevor. Mehrere Beamte in grauen Kitteln holten fortlaufend die Aktendeckel und riefen laut den Namen der Transportfirma aus. Neumeyer brauchte nur zehn Minuten zu warten, bis er aufgerufen wurde. Der Beamte hatte bereits die Papiere durchstöbert und schaute sich im Laufen alle Unterlagen noch einmal penibel an. Einmal bleib er abrupt stehen und schob die Brille auf die Stirn, um das Kleingeschriebene besser lesen zu können.
„Wo steht Ihr Lastzug?“, fragte der Beamte.
„Dort rechts, der graue Zugwagen“, antwortete Neumeyer.
„Achtzehn Paletten ergeben rund 26 Tonnen Ladung. Damit sind sie genau am Limit. Sind Sie sicher, dass der Lastzug nicht schwerer ist als 38 Tonnen?“
„Wir liefern sehr oft diese Menge aus und wir wurden oft gewogen und es stimmt fast immer bis aufs Gramm genau. Nie gab es eine Beanstandung“, sagte Neumeyer und merkte, wie ihm der Schweiß den Rücken herunterlief.
Man sah, dass der Beamte mit sich rang, ob er den Lastzug auf die Waage schicken sollte.
„Ich kann Ihnen gerne einen Stein auf ihre Waage im Büro legen. Jeder wiegt exakt 2,9 Kilogramm. Wenn Sie das mit 8640 Steinen multiplizieren, dann liegt das Ergebnis immer noch über 700 kg unter den 26 Tonnen. Sie kennen auch das Eigengewicht der Paletten, inklusive Folie sind wir knapp unter den 26 Tonnen.“
Während Neumeyer seinen Redefluss beibehielt und dabei möglichst lässig wirkte, kletterte er auf den Anhänger und wollte mit einem Messer die Folie aufschlitzen, um dem Beamten einen Stein zur Probe auszuhändigen. Die Steine dieser Palette, vor der Neumeyer wie zufällig stand, waren speziell für den Zoll präpariert. Den Lastzug zu wiegen, bedeutete höchste Gefahr. Neumeyer wusste nicht, ob das Gesamtgewicht wirklich so genau austariert war, wie das seine Auftraggeber behaupteten. Nirgends hatte er seit gestern eine Chance gehabt, den beladenen Lastzug zu wiegen.
„Lassen Sie, der Transport ist in Ordnung. Ich gebe die Ladung frei“, sagte der Beamte.
„Danke, dann komme ich heute wenigsten noch an, solange es hell ist“, antwortet Neumeyer.
Der Beamte wandte sich wortlos ab und ging zurück an sein Pult. Er stempelte mehrere Unterlagen ab und händigte Neumeyer die restlichen Unterlagen aus.
Um 20 Uhr traf er in Olten bei der Baustoffhandlung Kühni ein. Herr Kühni lief sofort auf den Hof und begrüßte ihn. Mit seiner Hilfe wurde der Lastwagen in eine große Halle gelotst. Kaum stand der Motor still, sprang Kühni auf den Anhänger und schnitt einen Schlitz in die Folie der vorletzten Palette. Er griff sich einen Stein heraus und wog ihn in der Hand. Er warf den Stein Neumeyer zu, der ihn auffing und vorsichtig in die danebenstehende Schubkarre legte. Das Gleiche tat er nun mit jeder Palette, die präparierte Steine enthielt. Kühni sprang vom Lastwagen herunter.
„Kommen Sie mit in meine Werkstatt!“
Neumeyer schob die Schubkarre hinter ihm her. Kühni stoppte vor einer Werkbank und griff einen Stein aus der Schubkarre. Mit einem spitzen Hammer zerteilte er den Stein. Er zerbrach in zwei Hälften. Ein Kern aus weißem Hartschaum wurde sichtbar. Vorsichtig zog er den kleinen Hartschaumbehälter aus der unzerbrochenen Hälfte und öffnete die Box. Zufrieden lächelnd präsentierte er Neumeyer den Inhalt.
16. Leipzig (Deutsche Demokratische Republik), August 1990
Die zweite Lieferung sollte genau vier Wochen nach der ersten erfolgen. Sein Zeitplan war von den Auftraggebern exakt vorgegeben. Neumeyer informierte den Vikar und gab den Termin für ein Treffen der Zwillinge mit ihrem Vater in der Nikolaikirche bekannt: In drei Tagen würde er sie dort abholen, ließ er den Vikar wissen. Gemäß dem vereinbarten Code wüssten die Zwillinge, dass er sie in Wirklichkeit noch in dieser Nacht abholen würde, vorher würde er den Lastwagen beladen. Er hatte sich vor zwei Wochen einen Gebrauchtwagen auf den Namen der Firma gekauft. Den Wagen hatte er vor zwei Tagen in Oberfrohna auf dem Parkplatz eines Supermarktes abgestellt. Damit keine Nachprüfungen stattfanden, hatte er dem Filialleiter erzählt, sein Wagen springe nicht mehr an und er schleppe ihn in wenigen Tagen mithilfe eines Freundes ab. Der Filialleiter gab sein Einverständnis. Pünktlich traf Neumeyer mit dem Lastzug in Oberfrohna ein und lud die 18 Paletten im Eiltempo auf. Sobald es dunkel war, schlich er sich aus der Halle. Alle Lichter hatte er gelöscht. In weniger als zwanzig Minuten hatte er sein Auto erreicht. Das Treffen mit den Zwillingen sollte um Mitternacht stattfinden. Er hatte also zwei Stunden Zeit, bis zum Treffen mit seinen Kindern, die nicht ahnten, dass er ihr Vater war. Konzentriert und zügig kämpfte er sich auf Landstraßen entlang, deren Zustand er nur zu gut kannte. Eine Viertelstunde vor Mitternacht erreichte er die Stelle, an der der Vikar letztes Mal das Auto abgestellt hatte. Er schlich sich zum Zaun und hielt dabei den Strahl der Taschenlampe auf den Boden gerichtet. Er wartete an der gleichen Stelle, an der letztes Mal die Zwillinge auftauchten. Er flüsterte leise „Hallo“ ins Dunkel.
„Nicole! Kevin!“, flüsterte er in die Büsche.
Plötzlich leuchtete ein Taschenlampenstrahl genau in sein Gesicht. Erschrocken riss er die Hände vor die geblendeten Augen.
„Er ist es wieder“ flüsterte eine Jungenstimme.
„He, Sie, wo ist unser Vater? Sie haben versprochen, er kommt mit, wenn wir fliehen, sagte die Jungenstimme leise.
„Neumeyer war froh, die Kinder zu hören.
„Ich musste alleine kommen, ich bringe Euch zu ihm. Wir müssen weit fahren. In die Schweiz. Dort wartet Euer Vater auf Euch.
„Wieso ist er nicht hier?“, fragte nun auch Nicole flüsternd.
„Er ist in Gefahr. Mehr kann ich Euch nicht sagen. Und Ihr seid auch in Gefahr. Kommt bitte schnell und möglichst leise hinter mir her.“
„Nicht, solange Sie uns nicht sagen, was mit unserm Vater ist! Warum ist er in Gefahr?“ Und warum auch wir?“, wollte Kevin wissen.
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