„Wo sind wir?“, fragte Nicole.
„In Sicherheit!“, antwortet ihnen Neumeyer, legte dabei seinen Oberkörper auf das Lenkrad und schloss die Augen.
„Was ist das für ein Zelt?“, wollte Kevin wissen.
„Das gehört einer Freikirche, die missionieren hier.“
„Missionieren? Freikirche? Wir sind doch hier nicht in Afrika“, bemerkte Nicole.
„Vor was sind wir denn in Sicherheit?“, wollte jetzt Kevin wissen.
Bevor Neumeyer antworten konnte, erschien die Projektion von Autoscheinwerfern auf der Zeltwand. Ein Auto näherte sich der Straße entlang dem Zelt.
„Verdammt!“, rief Neumeyer. „Versteckt Euch draußen im Gebüsch hinter dem Zelt! Nehmt Eure Rucksäcke mit. Los! Los! Raus mit Euch! Es gibt einen Hinterausgang. Ich rufe Euch, wenn die Luft wieder rein ist.“
Erschreckt durch die knappen Befehle ließen sich beide Kinder aus dem Fahrerhaus fallen und rannten über das Podium. Sie schlüpften unter der Zeltplane hinaus ins Freie. Man hörte es rascheln. Neumeyer räumte blitzschnell das Fahrerhaus auf. Die Pässe der beiden Kinder ließ er in der Kiste mit den Gesangbüchern verschwinden. Alles andere, was noch herumlag, war nicht verdächtig. Die Scheinwerferkegel wanderten über die Zeltplane, jetzt hörte man auch den Motor. Es war ein PKW. Neumeyer rannte zum Eingang, der noch offenstand und ziemlich ramponiert aussah. Vorsichtig schaute er um die Ecke. Es war ein helles Fahrzeug, also nicht die Verfolger von vorhin. Direkt vor dem Eingang kam das Fahrzeug zum Stillstand. Ein Mann saß darin. Er ließ den Motor laufen, die Scheinwerfer leuchteten genau auf den Eingang des Missionszeltes. Der Mann trat vor die Scheinwerfer. Neumeyer erkannte den Prediger. Der murmelte etwas vor sich hin und schaltete seine Stablampe ein. Neumeyer trat aus dem Eingang. Zornig herrschte der Prediger ihn an: „Wer sind Sie? Was haben Sie hier zu suchen? Und wer hat diese Zerstörung angerichtet?“ Dabei hielt er die Lampe genau auf Neumeyer gerichtet.
„Wir kennen uns, ich war vor einem Monat in Olten Ihr Zuhörer.“
„Das gibt Ihnen aber nicht das Recht, hier einzudringen und unser schönes Zelt zu zerstören!“, erwiderte zornig der Prediger.
„Ich bin in einer Notlage und bitte Sie, mir zuzuhören“, versuchte Neumeyer ihn zu besänftigen.
„Notlage? Was ist das wieder für eine Ausrede!“
„Bitte machen Sie doch den Motor und das Licht aus. Ich werde verfolgt!“
„Was ist das hier für eine Sauerei, warum ist das alles zerstört?“ Er klang sehr aufgebracht.
„Bitte schauen Sie in das Zelt, dann verstehen Sie, warum.“
Der Prediger stellte sich vor den klaffenden Eingang, das Innere lag im Dunkel. Er leuchtet mit der Stablampe hinein. Der Strahl erfasste die Konturen des Anhängers und jetzt bemerkte er auch das Führerhaus des Zugwagens.
„Du meine Güte, da steht ja ein Lastwagen im Zelt! Sind Sie total verrückt? Ich muss die Polizei verständigen. Das geht über jedes Maß hinaus, das man mit einem Gespräch erledigen könnte. Es tut mir leid, aber ich muss die Gendarmerie informieren. Es wäre sehr gut, wenn Sie hier stehen bleiben und sich eine gute Erklärung einfallen lassen, bis wir zurück sind.“
„Bitte gehen Sie nicht. Ich will Ihnen erst alles erklären und dann können Sie entscheiden.“
Der Prediger wich zurück.
„Bitte hören Sie mir einfach nur fünf Minuten zu. Fünf Minuten! Ich bin nicht gefährlich und ich bin kein Gangster, aber ich weiß nicht mehr weiter.“
Neumeyer hatte es irgendwie geschafft, dass der Prediger sich umdrehte.
„Wahrscheinlich würden mich jetzt alle für irrsinnig erklären, dass ich Ihnen genau fünf Minuten gebe.“
„Dann machen Sie bitte Ihren Motor aus und schalten die Scheinwerfer ab.“
Zögernd folgte der Prediger Neumeyers Vorschlägen. Dann folgte er ihm ins Innere des Zeltes.
Neumeyer wandte sich um.
„Ich bin ehemaliger DDR-Bürger und bringe heimlich Vermögen der Bonzen in Sicherheit. Unglaublich viel Vermögen. Die Planung ist schon seit fast zwei Jahren im Gange. Ich mache die Transportarbeit. Als Druckmittel hatte man gedroht, meinen Kindern etwas anzutun. Ich hatte bis vor zwei Jahren selbst keine Ahnung, dass ich Kinder habe. Sie sind das Ergebnis einer Studentenliebe, die plötzlich aus meinem Leben verschwand. Ich habe meine Kinder heimlich ausfindig gemacht, Kontakt zu ihnen hergestellt und sie letzte Nacht aus einem Heim in Leipzig entführt. Vor wenigen Stunden gestand ich ihnen, dass ich ihr Vater bin. Auf der Autobahn wurden wir verfolgt. Ich bin sicher, dass man mich zur Rechenschaft ziehen will. Auf diesem Lastzug befindet sich ein Kubikmeter Gold, die wiegen über 19 Tonnen, eingegossen und verteilt in tausende von Ziegelsteinen. Derzeitiger Goldwert ist ca. 250 Millionen US Dollar.“
Völlig sprachlos starrte der Prediger ihn an.
„Ich sollte dieses Gold heute Abend in Olten bei einer getarnten Firma abliefern, habe es aber nicht getan, weil ich befürchtete, man würde mich beseitigen, da ich zu viel weiß. Dieses Gold ist illegal, niemand weiß etwas davon, außer einer Handvoll Leute. Ich habe auch Angst um meine Kinder, sie haben sich draußen im Gebüsch versteckt.“
Der Prediger wachte aus seiner Erstarrung auf.
„Holen Sie die Kinder sofort her“, herrschte er Neumeyer an.
18. München (Deutschland), Mai 1992
Der englische Garten strahlte in frischem Grün. Blumenbeete mit ihren bunten Mischungen aus Frühlingsblumen sorgten dafür, dass die Farben überliefen. Dr. Habsberg saß allein mit einer Frankfurter Allgemeinen auf einer Bank in der Nähe des chinesischen Tempels. Wie verabredet. Er hatte nie eine Wahl. Seine heimliche Spielsucht hatte ihn beinahe ruiniert. Bisher war es ihm gelungen, alles vor seiner Familie geheim zu halten, aber in Kürze, so sagte es ihm sein bester Freund bei der Hausbank, würde er auch noch das letzte Eigentum, das schöne Haus in Süden Münchens, an die Bank verlieren. Und dann? Es gehörte eigentlich alles seiner Frau. Sie hatte bedeutenden Reichtum in die Ehe gebracht, aber dessen Verwaltung ihrem Mann in blindem Vertrauen übertragen. Da es ihnen gut ging, fragte sie nie. Immer tiefer war er in den letzten zwölf Monaten in die Misere gerutscht. Ein Mann in einem beigefarbenen Trenchcoat lief auf die Bank zu und setzte sich neben ihn, einen Zwischenraum lassend. Der Unbekannte sprach ihn an.
„Dr. Habsberg?“
„Ja der bin ich. Und mit wem habe ich die Ehre?“
„Das ist im Moment unwichtig. Ich möchte Ihnen einen Vorschlag unterbreiten. Sie erhalten alle verlorenen Millionen zurück. Es dürfte sich um genau 4,3 Millionen DM handeln, die Sie verspielt haben. Dafür schließen wir mit Ihnen einen Vertrag.“
„Woher kennen Sie eigentlich meine Verhältnisse?“
„Bitte Herr Dr. Habsberg, stellen Sie einfach keine Fragen, da es darauf keine Antworten geben wird.“
„Was für einen Vertrag wollen Sie schließen? Soll ich Ihnen meine Seele verkaufen?“, sagte Habsberg ironisch.
„In gewisser Weise ja!“, antwortete der Unbekannte schmunzelnd. „Sie sind in Ihrem Institut einigen beunruhigenden Fakten auf der Spur. Sie kaschieren diese Ergebnisse und wir kaschieren Ihre Spielsucht.“
„Niemals!“, brauste Habsberg auf. „Eher würde ich …“ Er zögerte.
„… Ihre Schulden als Taxifahrer abarbeiten? Ihre Reputation einbüßen? In Schimpf und Schande weggejagt werden? Ihre Lehrbefähigung aufs Spiel setzen?“
„Was genau soll ich kaschieren?“
„Die Ergebnisse Ihrer Feldstudien über die Auswirkung des Fernsehens auf die Gewaltübertragung und Sie stellen sofort alle Studien über das Suchtverhalten in Verbindung mit Fernsehkonsum ein.“
„Sind Sie verrückt? Das geht nicht. Es handelt sich um bahnbrechende Erkenntnisse. Sie sind bisher einmalig. Ich bin der Erste, dem es gelungen ist, aufzuzeigen, dass Gewaltdarstellung im Fernsehen zu manifester Gewaltanwendung bei männlichen Jugendlichen führt. Und ich bin kurz davor nachzuweisen, dass Fernsehen zu einem suchtartigen Konsum verführt, ähnlich Drogen, Alkohol oder Nikotin. Die hormonell-chemischen Prozesse unterscheiden sich erheblich von bekannten Suchtabläufen und entfalten ihr Wirkzentrum nur im Gehirn. Dort entsteht mit zunehmendem Fernsehkonsum eine bisher unentdeckte Hormonpumpe, die bei Abstinenz anfängt, Amok zu laufen und …“
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