Sie gab vorsichtig zu bedenken: „Mädel, das geht nicht. Vielleicht hat er eine Frau zu Hause und er kann seine Verpflichtungen dort gar nicht auflösen. Der schmeißt doch nicht so einfach alles hin. Der ist doch gewissenhaft und bodenständig.“ - „Sieht man ja! Deshalb ist er damals auch abgehauen“, entgegnete Karin gereizt. „Das kannst Du nicht beurteilen, bist nicht dabei gewesen“, fuhr die Alte dazwischen, mäßigte sich und warb gefühlvoll: „Der Volker ist doch so empfindsam und gar nicht für unser Leben hier abgerichtet. Das wird nichts. Der geht hier ein.“ Karin geiferte gehässig: „Das zarte Jüngelchen.“ Die Alte versöhnlich: „Karin, lass uns nichts überstürzen. Er ist doch gerade erst einen halben Tag hier.“ Die junge Bruck schluckte weitere Widerworte runter. Sie wollte keinen Streit. Sie tröstete sich: Kommt Zeit, kommt Rat.
Die alte Bruck nahm einen Eimer zur Hand, legte ein paar Kohlen hinein, stapelte Holzscheite darüber, klemmte sich eine Zeitung unter den Arm und gab der Karin Bescheid: „Ich geh‘ mal oben anheizen.“ Sie hörte nicht mehr, wie die andere eifersüchtig maulte: „Verwöhne den nur, das zarte Jüngelchen.“
Mühsam stieg die Frau die schmale Treppe hinauf. Erinnerungen strömten ihr zu: Es war nicht leicht gewesen, die Heizstellen für die Kinderzimmer durchzusetzen. Unten im Haus heizten sie seit eh und je alle Räume von der Küche aus. Das Ergebnis war, dass in der Küche ewig die bullige Hitze stand, das Wohnzimmer mäßig warm wurde und das Schlafzimmer einer Eishöhle glich. Solange die Kinder klein waren und bei den Eltern schliefen, legte Mutter denen angewärmte Steine zu Füßen, damit die Jungs in den sehr ausgekühlten Betten überhaupt zur Ruhe kommen konnten. Als die Kinder nach oben umzogen, sperrte sich der Vater vehement, hier Öfen aufstellen zu lassen. „Wir hatten früher auch immer nur eine Heizstelle im Haus“, argumentierte der Vater, „so lang ist der Winter doch gar nicht und so kalt auch nicht. Die Jungs werden abgehärtet!“ Was der Vater als Abhärtung bezeichnete, war für die Mutter unnötiger Zwang, und die Zeiten waren ja auch längst vorbei. Man schrieb das Jahr fünfundfünfzig.
Hatte der Alte denn vergessen? Wie wohnte das Gesinde in den Zwanziger-, Dreißigerjahren? Das Gesindehaus auf dem Gutshof war ein langgestreckter, hoher Bau, ähnlich dem der Getreide-, Holz- oder Futterspeicher. Ein Speicher. Ja, ein Menschenspeicher! Im Erdgeschoss befand sich mittig im Raum ein großer, grob gezimmerter Tisch, darunter Bänke. Hier nahm das Volk, jung und alt alle gemeinsam, seine Mahlzeiten ein. An der Stirnseite des Tisches gab es eine feste Kochstelle, mit der gleichzeitig das ganze Haus beheizt wurde. Seitlich führten Stiegen in die offene zweite Etage zur Galerie. Da oben reihten sich wie Schwalbennester die Schlafnischen aneinander und boten den Leuten eine gewisse Intimität zur Nacht. Im Sommer war‘s zu warm, im Winter war‘s zu kalt. Wenn Vater Bruck im Jahr fünfundfünfzig behauptete, das hätte der Abhärtung gedient, dann hatte er vergessen, dass in den Schwalbennestern die Jungen wie die Fliegen starben. Die meisten Mägde kamen jährlich einmal nieder und es gelang ihnen schließlich nur ganz selten mal, ein Kind bis zum vierzehnten Lebensjahr aufzuziehen.
Dass der Brucks erstes Kind gedieh, verdankten sie des Vaters Durchsetzungsvermögen. Der hatte sich durch seine gute Arbeit und durch seinen aufgeklärten Sinn eine gewisse Autorität unterm Gesinde und beim Inspektor verschafft. Der Vater verfügte unumwunden: „Meine Frau bleibt im Wochenbett oder ich schmeiße alles hin.“ Nach dem Wochenbett setzte Bruck für seine Frau hausnahe Arbeit durch. Da konnte die junge Mutter ihr Kind pflegen und beaufsichtigen.
Jetzt wollte der Bruck das alles vergessen haben? Er lobte sich die Härte ihres damaligen Daseins? Er verweigerte den Kindern die Öfen?
Geschickt musste die Mutter vorgehen, um bei ihrem Mann zum Ziel zu kommen. Sie zeichnete den Fortschritt, jene Erfolge, die er mit seiner schweren, opferbereiten Arbeit auch für die hiesige Gemeinde geschaffen hatte, nach und stellte dann die Frage: „Sollen die Kinder davon nicht profitieren? Sollen ausgerechnet die Kinder des LPG-Vorsitzenden im Kalten sitzen?“ Vater Bruck brabbelte was von „überzogenem Luxus“ und „sinnloser Geldausgabe“, stiefelte zum Ofenbauer und bestellte zwei kleine Öfen. Von da an hatten es die Jungen schön warm in ihren Kinderzimmern.
Dem Peter mochte das eigentlich egal sein, er war sowieso immer draußen auf den Feldern und in den Ställen bei den Bauern. Der kam selbst im tiefsten Winter noch hoch erhitzt heim und sprudelte förmlich vor Energie. Aber der Volker, Tag und Nacht über den Büchern sitzend, der wäre hier oben erfroren, sinnierte die sorgende Mutter, kehrte die Asche vom Ofenblech, kontrollierte noch einmal das lodernde Feuer und stieg dann zufrieden die Treppe hinab. Auch Frühlingsnächte können empfindlich kühl sein, sagte sie zu sich, und der Volker soll sich doch wohl fühlen, wenn er schon mal zu Hause ist.
Auf Abend zu gingen die beiden Frauen, Schwägerin Karin und Mutter Bruck, und der Volker zum Vater ins Pflegeheim. Der Hund trottete brav hinterher, schnüffelte hier und da und ließ seine Herrchen nicht aus den Augen. Der Weg zum Pflegeheim war nicht weit. Ein paar Schritte durch die Siedlung und schon sah Volker Bruck das schlichte Gebäude, angrenzend an den um die Kirche liegenden Friedhof.
„Wie geschmackvoll“, kommentierte der Mann seine Beobachtung, „der letzte Wohnort gleich neben dem Friedhof.“ - „Das ging nicht anders“, antwortete die Karin ungefragt, „keiner wollte damals Land hergeben, wie es begann, dass wir ein Altenheim brauchen. Nicht die LPG, nicht die Gemeinde. Da opferte sich Pfarrer Günzel, gab seinen Garten her, und sie stellten das Haus drauf.“ - „Ach nee! Und ich dachte, Ihr hieltet Euch so viel auf Sozialfürsorge. Gehörten da die Alten nicht dazu?“, provozierte Volker gereizt. „Kinder, lasst gut sein“, beschwichtigte die alte Bruck, „wir sind schon da.“ Kira legte sich neben den Eingang. Die Brucks betraten das Haus.
Alte Menschen einzeln vor sich hin dösend oder in Gruppen zusammen sitzend und sich unterhaltend in einem großen, gemütlich hergerichteten Gemeinschaftsraum. Pflegerinnen bemühten sich rührend um das Wohl der Greise und Greisinnen. Die Brucks gingen zu Vaters Zimmer. Im Flur begegnete ihnen Schwester Irene, die grüßte und vorbeihuschen wollte. Die Mutter sprach Irene an: „Nun, wie geht es ihm?“ - „Ich sagte es schon, Frau Bruck, der kann nicht sterben. Er ist unruhig, hält fest, als habe er noch was zu erledigen“, erwiderte sorgenvoll die erfahrene Altenpflegerin. „Ach was“, wiegelte Mutter Bruck ab, „der ist nur zäh, wie immer. Hat auch im Sterben seinen eigenen Kopf.“ Irene vorsichtig: „Wenn Sie öfter vorbeikommen würden, hätte er es leichter.“ Bedauernd den Kopf neigend ging Irene weiter. Die alte Bruck öffnete die Zimmertür und lud die beiden anderen ein, näher zu treten.
Der alte Bruck saß stocksteif im Lehnstuhl, den Mund hielt er offen und die Augen starr auf einen imaginären Punkt in der Ferne gerichtet. Wie ein gefällter Baum!, fuhr es dem Volker Bruck in die Seele. Der Vater, dieser Riese, der spielend zwei Zentner stemmen konnte - dieser Vater saß jetzt hier wie ein gefällter Baum.
Volker Bruck kamen die Tränen. Er hielt sie nicht zurück. Tief bewegt sank der Sohn nieder, kniete vor dem Vater und weinte wie ein Kind. Die beiden Frauen sahen sich betroffen an. Damit hatten sie nicht gerechnet. „Wir warten draußen“, sagte Mutter Bruck leise, fasste die Karin bei der Hand und zog sie zur Tür.
Volker Bruck hatte seinen Vater niemals schwach gesehen. Der war immer das Zugpferd gewesen. Er war bei der Arbeit, auch beim Saufen immer vorneweg. Sein Wort galt nicht nur etwas, weil er meistens gut überlegt handelte, sondern auch weil er stimmgewaltig große Menschenansammlungen zusammen brüllen und sich Gehör verschaffen konnte. Zu Hause, erinnerte sich Volker, hat der Vater mich oft genug aus der warmen Stube vom Lesepult weggetrieben und verlangt, ich solle in der Wirtschaft oder auf dem Feld helfen. Damals war mir das lästig, widerwillig kam ich Vaters derb vorgetragenen Aufforderungen nach. Zumal mir, als Kind des Chefs, oft mehr zugemutet wurde als Nachbars Kindern. Ich hatte zwar nie viel Kraft, aber Augen im Kopf, um zu sehen, wie es manche förmlich darauf anlegten, zu zeigen, dass der Sohn der Brucks ein Versager ist. Als Kind habe ich darum oft geheult, und versucht, mich zu verstecken. Ohne Erfolg. Hat nicht auch Vaters Härte, mir die Ausdauer gegeben, die nachfolgenden Jahre durchzuhalten? Seine Härte machte ihn nicht bei allen beliebt, spann Volkers seinen Gedanken weiter: Wenn die Leute maulten, sich nicht fügten, sich seinen Anweisungen widersetzten, gab der Vater denen verbal eine übers Maul, stellte sich unter noch so widrigen Verhältnissen selber hin und erledigte das, von dem er überzeugt war, dass es jetzt sofort drängend und notwendig sei. Antreiber, Russenbüttel und Arbeitsvieh waren noch die mildesten Bezeichnungen, mit denen man den Alten unflätig belegte.
Читать дальше