Vom ersten Augenblick der Gründung dieser Privatklinik vor nun inzwischen fast neun Jahren hatte ich das Unternehmen mit aufgebaut. All meine Energie floss in dieses Projekt, als wäre es mein eigenes Unternehmen. Es steckte enorm viel Herzblut und Engagement von mir in dieser ganzen Sache und daher war ich auch nicht bereit, dies alles ohne weiteres einfach so aufzugeben.
Da ich eine medizinische Fachausbildung in meinem beruflichen Bereich besaß, wollte ich auch nicht in eine andere Klinik überwechseln. Dies hätte für mich, ich ging nun doch schon fast auf die Fünfzig zu, bedeutet, dass ich sozusagen wieder bei null beginnen müsste. Mein ganzes Berufsleben lang hatte ich nur in diesem speziellen Fachbereich gearbeitet und in den letzten dreiundzwanzig Jahren zahlreiche Fortbildungen in ganz Europa besucht, somit mich laufend weitergebildet.
Auch gab es in meiner Nähe keine solche Klinik mit gleichartiger medizinischer Fachabteilung. Wahrscheinlich hatte ich auch nicht den Mut dazu, in meinem Alter noch einmal etwas völlig Neues zu beginnen.
Den seit geraumer Zeit laufenden Kredit für das von mir erbaute Eigenheim musste ich auch noch mehrere Jahre abbezahlen. Die Vorstellung, den Arbeitsplatz zu wechseln, verursachte bei mir daher ziemliche Existenzängste. Falls bei einer diesbezüglichen Veränderung ein monetärer Engpass entstehen würde, wäre ich dann womöglich nicht mehr in der Lage, meine finanzielle Situation zu bewältigen.
Und was sollte ich auch beruflich Neues anfangen? Ich liebte meine Arbeit, ging voll in meinem Beruf auf und dachte mir, dass es auch an anderen Arbeitsplätzen Nachteile oder Probleme geben würde. In diesem Fall könnte ich dann auch nicht einfach davor weglaufen. Also beschloss ich immer wieder, mich zusammenzureißen und weiterzumachen, wie bisher und mein Bestes zu geben. Ich war mir sicher, dass es irgendwann wieder angenehmer werden würde und ich einfach durchhalten musste. Wenn ich die schwerwiegenden Schicksale unserer Patienten betrachtete, die teilweise schon Jahrzehnte chronisch schwer erkrankt waren, musste ich mich sowieso fast schämen, dass ich wegen solcher Kleinigkeiten kapitulieren wollte. Mir wurde bei diesen Überlegungen wieder so richtig bewusst, dass ich überhaupt keinen Grund hatte, mich zu beklagen, denn ich war gesund, an meinem Körper funktionierte alles einwandfrei. Zumindest äußerlich war mir keine Einschränkung anzusehen. Ich stellte mir vor, wie glücklich so mancher unserer Patienten wohl wäre, wenn er körperlich in so einer tadellosen Verfassung wäre wie ich. Es kam mir also wirklich wie eine große Ungerechtigkeit vor, dass ich mit meiner Situation in solcher Weise haderte.
Da ich davon überzeugt war, eine Kämpferin zu sein, wollte ich mich jetzt nicht unterkriegen lassen und war sicher, dass ich das alles schon irgendwie schaffen würde. Aufgeben war für mich eigentlich noch nie ein Thema gewesen und zugeben, dass ich an meine Grenzen gestoßen war und etwas nicht bewältigen konnte, schon gar nicht.
Hin und wieder zweifelte ich schon, ob mein Zustand noch „normal“ war und sorgte mich, ob meine Gefühle und Beschwerden weiterhin zu verheimlichen wären oder diese Situation eventuell mit der Zeit doch in Richtung Burnout laufen könnte. Gelegentlich hörte ich in meinem Umfeld von Personen unseres Berufszweiges, die gehäuft von dieser Erkrankung betroffen waren. Wenn ich bewusst in mich hinein fühlte, dann war ich nicht mehr sicher, ob ich so noch lange weitermachen konnte. Auch verspürte ich immer häufiger diverse Angstzustände, vor allem befürchtete ich, dass ich den täglichen Aufgaben nicht mehr gewachsen sein könnte. Manchmal wurden die einfachsten Anforderungen plötzlich so belastend für mich, als würde ich vor einem unüberwindbaren Berg stehen. Dann überkam mich auf einmal eine unbeschreibliche Panik, wenn ich nur einen ganz gewöhnlichen Anruf tätigen musste.
Verließ ich mein Haus, um zur Arbeit zu gehen, litt ich schon morgens unter Stress und Konzentrationsschwäche. Ich musste manchmal mehrmals nachkontrollieren, ob ich die Haustüre abgesperrt oder den Herd ausgestellt hatte. War ich bereits einige Meter vom Haus entfernt, musste ich noch einmal umkehren und erneut den Herd kontrollieren und als ich dann wieder einige Meter von der Eingangstüre entfernt war, zweifelte ich schon wieder, ob ich wohl abgeschlossen hatte. Gleichzeitig erschreckte mich dies alles sehr, denn ich ahnte, dass da etwas mit mir nicht mehr stimmen konnte. Ich befürchtete schon, dass ich womöglich an einer Zwangserkrankung leiden könnte. So ein Verhalten hatte ich in meinem ganzen Leben noch nicht bei mir beobachtet.
Auch litt ich neben meinen Konzentrationsschwierigkeiten zunehmend an Gedächtnislücken. Erinnerung und Merkfähigkeit ließen plötzlich drastisch nach. Alles schrieb ich mir auf, um nur ja nichts zu vergessen. Jeden Termin trug ich im Kalender ein und täglich notierte ich zudem eine lange Liste von Aufgaben, die ich abarbeiten sollte. Oft war ich dann am Ende des Tages sehr unzufrieden mit mir, wenn ich nicht alles erledigt hatte.
Einmal traf ich eine Mitarbeiterin beim Einkaufen und wusste, dass ich diese Person gut kannte, erinnerte mich jedoch nicht mehr, woher. Ich ließ mir nichts anmerken, als sie mich ansprach, denn es war mir sehr unangenehm, dass ich nicht wusste, wer sie war. So wechselte ich einige allgemeine, belanglose Worte mit ihr, damit ihr nicht auffiel, dass ich sie nicht erkannte. Die Tatsache, dass ich plötzlich so extreme Erinnerungslücken aufwies, beunruhigte mich sehr. Erst einige Stunden später fiel mir wieder ein, dass diese Frau ja eine unserer Mitarbeiterinnen gewesen war.
Manchmal, wenn ich mit dem Auto fuhr, hatte ich plötzlich Momente, in denen ich mich nicht mehr erinnerte, wohin ich eigentlich fahren wollte. Das Ziel war mir während des Fahrens von einer Sekunde auf die andere entfallen. Es war extrem beängstigend und verunsichernd für mich, weil ich befürchtete, vielleicht eine Form von Demenz zu entwickeln.
Einmal behandelte ich einen Patienten und obwohl die Situation eigentlich routinemäßig verlief, also keine besondere Anstrengung darstellte, und auch die Raumtemperatur nicht außergewöhnlich hoch war, bekam ich einen Schweißausbruch und fing am ganzen Körper an zu zittern. Verzweifelt versuchte ich, mir nichts anmerken zu lassen, doch der Patient fragte mich plötzlich: „Geht es dir nicht gut?“ Mittlerweile tropften mir schon die Schweißperlen über die Stirn und die Nase und er hielt mir ein Papiertaschentuch entgegen, damit ich mich abwischen konnte. Es war mir überaus peinlich und ich sagte: „Nein, nein, alles in Ordnung, es ist nur ein bisschen heiß hier.“
Zu Hause versuchte ich es dann gelegentlich mit einer Entspannungs-CD, in der Hoffnung, eine Meditation könnte mich etwas zur Ruhe bringen. Doch kaum hatte ich den CD-Player gestartet, ließen mich meine alltäglichen Gedanken nicht los, denn das unangenehme Gedankenkarussell begann sofort in meinem Kopf zu kreisen und ich konnte es nicht abschalten. Es gelang mir nicht, mich auf die sanfte Musik zu konzentrieren und den ruhigen Anweisungen der Stimme Folge zu leisten. Eigentlich sollten ja auch so viele andere Dinge dringend erledigt werden, da konnte ich nicht einfach so sinnlos herumsitzen, um mich zu entspannen. Ich musste meine Zeit effektiv einteilen und nutzen, denn sie war überaus knapp bemessen.
Immer mehr spürte ich gleichzeitig, dass etwas gewaltig aus dem Ruder lief und ich die Situation bald nicht mehr im Griff haben würde.
Jede Woche am Montagmittag traf ich mich mit Klaus, unserem Geschäftsführer, zu einer Sitzung in seinem Büro. Wir besprachen bei diesem Termin regelmäßig sämtliche Belange, die für den Betrieb der Klinik von Wichtigkeit waren. Man plante gemeinsam diverse Neuanschaffungen, Fortbildungen für Mitarbeiter, überlegte, welche Verbesserungen wir in naher Zukunft umsetzen könnten und vieles dergleichen mehr.
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