„Oh, Weiser“, begann Kigror, doch der Weise unterbrach ihn.
„Was ist passiert?“, fragte er hastig und sein Blick fuhr von Gesicht zu Gesicht. „Und wieso seid ihr nur zu sechst?“
„Ein Drago-Soldat“, keuchte Kigror atemlos. „Noror hat sein Leben gelassen und…ja, wo ist denn der Junge?“
„Simlon?“
„Ja, eben war er noch bei uns. Ein Glück, dass es niemand…“ Doch da hörte ihn der Weise bereits nicht mehr. Er eilte den Hang hinunter. Hoffentlich kam er nicht zu spät.
Mit weit aufgerissenen Augen starrte Simlon das Wesen vor sich an. Der Drago-Soldat war riesig, größer als zwei Meter, sein Körper in eine schwarze Kutte gehüllt, die bis über seine Füße fiel und gespenstig durch den Schnee waberte. Simlons Blick fiel auf die Brust des Soldaten, auf der in dunkelroter Farbe ein Emblem eingestickt war: Zwei grausame Monster, die gegeneinander zu kämpfen schienen - das Wappen Dragons! Bedrohlich kam der Drago-Soldat näher, und Simlon sah die aschfahle Haut unter der Kapuze, die sein Gesicht beinahe völlig verdeckte. Die langen Finger umklammerten die Lanze nun fester. Er sah noch viel furchtbarer aus, als Simlon es sich vorgestellt hatte. Als hätte der Anblick des Todesinstruments ihn aus seiner Versteinerung gelöst, begann Simlon zu rennen. Er verschwand zwischen den Bäumen, während seine Gedanken rasten. Wie sollte er entkommen? Er wusste, dass es beinahe unmöglich war. Keuchend hastete er durch den Wald, schlängelte sich zwischen Bäumen und Sträuchern hindurch, und stieß hart mit dem Fuß gegen eine unter dem Schnee vergrabene Wurzel. Er sah sich um, doch er konnte den Drago-Soldaten nirgendwo ausmachen, doch das beunruhigte ihn nur zusätzlich.
Nun rannte er über eine Lichtung, die zwischen den mit weißen Kleidern geschmückten Bäumen in den Wald geschlagen war und - erstarrte. Genau vor ihm brach der Drago-Soldat aus dem Unterholz und blieb nun stumm in seinem Weg stehen, als sei dies eine zufällige Begegnung. Simlon schluckte, doch sein Mund blieb trocken. Es gab nun kein Entkommen mehr, er würde kämpfen müssen. Er bezweifelte, dass er der Macht Dragons auch nur ansatzweise gewachsen war. Dennoch, er würde sein Leben so teuer wie möglich verkaufen. Er hob Kigrors Waffe. Der Drago-Soldat ließ die Lanze zu Boden gleiten und zog ebenfalls ein Schwert. Simlon atmete schwer und der kondensierende Atem stieg von seinem Mund in die Luft.
Der Drago-Soldat kam langsam näher - und hieb völlig unvermittelt zu.
Der Schlag kam so unerwartet, dass Simlon nur mit Mühe sein Schwert hoch halten konnte. Sein ganzer Körper bebte, als die Klingen sich trafen. Der Schlag war unglaublich hart, und doch schaffte es Simlon, ihn einigermaßen gut zu parieren. Er schöpfte neues Selbstvertrauen.
Den nächsten Angriff startete er selbst, und es war ein guter Angriff. Zwar wehrte der Soldat die Schwertstöße problemlos ab, doch er wich zurück. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass man ihm Paroli bieten könnte. Auch Simlon selbst war vollkommen überrascht über seine Fähigkeiten, es schien, als habe sich das harte Training, das er allein im Wald mit einem zurecht geschnitzten Stock absolviert hatte, ausgezahlt. Er nutzte den Moment der Verwunderung aus, um erneut zuzuschlagen. Schützend hob der Soldat seinen Arm und wich zurück, doch Simlon spürte, wie er durch den Stoff der Kutte schnitt und ihm den Arm aufritzte. Schwarzes Blut quoll aus der Wunde und tropfte in den Schnee wie Tinte. Doch der Soldat schien nicht besonders angeschlagen, im Gegenteil. Mit einem Ruck schoss er nach vorne und stand wieder mit rasselndem Atem kampfbereit vor Simlon, der das Schwert mit beiden Händen umklammert hielt.
Dann griff der Soldat erneut an, und Simlon machte sich bereit, doch anstatt wie angetäuscht das Schwert auf ihn niedergehen zu lassen, ballte er die andere Hand zusammen, und Simlon wurde von einer unsichtbaren Kraft von den Füßen gerissen. Hart schmetterte er an einen Baum und sank atemlos zusammen. Offenkundig beherrschte der Drago-Soldat die Magie, und zwar nicht nur so laienhaft wie er selbst. Er wollte aufspringen, doch der Soldat war zur Stelle, und bevor Simlon sich sammeln konnte, flammte ein unglaublich stechender Schmerz in seiner Schulter auf, als das Schwert seinen Arm traf.
Mit schummrigem Gefühl hob er die Finger an die Wunde - sie war tief und Blut quoll daraus hervor. Ihm wurde schwarz vor Augen.
Erneut wandte der Soldat einen Zauber an, der Simlon hart zurück gegen einen Baum schleuderte. Kraftlos sackte er zusammen. Sein Kopf war leer, er war vollkommen verausgabt. Und er sah nichts außer der drohenden Gestalt vor sich.
Der Schneesturm wütete nun wild, die eisigen Böen wirbelten um sie herum und schienen sie anzustacheln. Der Soldat stand über ihm, und obwohl er sein Gesicht nicht sah, wusste Simlon, dass sein erbarmungsloser Blick auf ihm ruhte.
Langsam hob der Soldat das Schwert…dann zerfiel er in Stücke. Er zerbröselte förmlich vor Simlons Augen, und alles was von ihm übrig blieb, war schwarze Asche, die vom Wind davongetragen wurde. Simlon lächelte beseelt. Das war nicht real. Er musste bereits tot sein. Er schloss die Augen und verlor das Bewusstsein.
Zwischen den Bäumen stand der Weise Jomera mit einer erhobenen Hand. Er hatte den Drago-Soldaten mit einem einzigen Zauber außer Gefecht gesetzt, doch das interessierte ihn nicht, er war nur froh, noch rechtzeitig gekommen zu sein. Ruhigen Schrittes ging er auf Simlon zu und untersuchte seine Schulter.
„Ia iamoai tair (Ich heile dich; zweiter Heilzauber)“, flüsterte er, und prompt verschwand die Wunde, als wäre sie nie da gewesen. Nur das Blut im Schnee und das zu Boden gefallene Schwert des Soldaten zeigten, dass hier gerade ein Kampf stattgefunden hatte. Der Weise ließ den bewusstlosen Simlon in die Luft aufsteigen, sodass er auf Hüfthöhe neben ihm herschwebte, und führte ihn so zur Burg zurück.
Simlon erwachte.
Er war in einem dunklen Raum und lag auf etwas Weichem, wahrscheinlich einem Bett. Er griff sich an den Kopf und überlegte. Wie war er hierher gelangt?
Dann fiel ihm der Kampf mit dem Drago-Soldaten wieder ein, wie er ihn an der Schulter verletzt und dann zum entscheidenden Schlag angesetzt hatte. Und dann war er zu Staub zerfallen? Das konnte nicht sein, vermutlich hatte er sich das eingebildet. Der Soldat musste ihn gefangen genommen haben. Doch der Raum wirkte nicht wie ein Verlies, im Gegenteil, er wirkte recht gemütlich. In diesem Moment drangen Stimmen von außen an sein Ohr. Er rutschte vom Bett und ging auf eine Tür zu. In diesem Moment öffnete sie sich von außen, sodass sie Simlon beinahe an den Kopf geknallt wäre.
Jomera trat ein und lächelte ihn an.
„Weiser? Ihr…?“, sagte Simlon verwirrt und erinnerte sich, dass er sich verbeugen sollte. Doch Jomera winkte ab und symbolisierte ihm mit einer stummen Geste, ihm zu folgen. Neugierig trat Simlon in einen hell erleuchteten Saal, der viermal so groß war, wie Simlons Haus, und doppelt so hoch. Zunächst fiel ihm die Abwesenheit jeglicher Fenster auf. Die Wände waren schmucklos, durch und durch aus grauem Stein, doch sie hatten etwas Erhabenes, wie Simlon fand. Beleuchtet wurde der Saal von drei gewaltigen Kronleuchtern, auf denen lichterloh eine Reihe von Kerzen brannte, deren Wachs ab und an zu Boden tropfte.
Nun sah er auch die anderen Imigenier um einen großen Holztisch sitzen, der als einziges Inventar seltsam unnötig in dem sonst vollkommen leeren Raum wirkte.
Der Weise bot ihm schweigend einen Platz an dem Tisch an, und Simlon ließ sich neben Leoror nieder, der ihm sanft aber herzlich auf die Schulter klopfte.
„Willkommen im fensterlosen Saal“, verkündete der Weise und blickte in die Runde der Männer.
„Weiser, ich danke Euch“, sagte Kigror und klang scheinbar ein wenig verdrossen, „wenn ich auch nicht wissen mag, warum Ihr mit Euren Verkündungen warten wolltet, bis der Junge wach ist- verzeiht mir- so ist er es nun und Ihr könnt uns an Euren Gedanken teilhaben lassen.“ Der Weise legte die spitzen Finger aneinander, sodass seine viel zu langen Fingernägel aufeinander klackerten und lächelte erneut sein geheimnisvolles Grinsen.
Читать дальше