„Ich weiß“, sagte er knapp, denn er wollte es nicht schon wieder hören. Diese Art von Konversation führten die beiden häufig.
„Was für ein verzogener Schnösel. Und Kigror merkt nicht einmal, wie schlecht sein Sohn sich gegenüber seinen Untergebenen benimmt. Nicht zu glauben.“
„Mutter…“
„Es ist doch so! Ich bin mir sicher, dass du bei Weitem mehr Talent hast als er.“ Simlon wollte ihr nicht widersprechen, obwohl das dann wohl doch ein bisschen weit ging. Dennoch tat es gut, es zu hören.
„Nun, geh aber“, drängte seine Mutter ihn.
„Was? Oh…jaah, klar.“ Er schritt zur Tür.
„Warte, Simlon!“, stoppte sie ihn noch einmal. Als er sie ansah, stellte er überrascht fest, dass sie besorgt wirkte. Lag es daran, dass sie gerade erst aufgewacht war, oder an ihrem Husten? Warum sonst wirkten ihre Augen so…feucht?
„Was ist denn los?“, fragte er unsicher, doch als habe man sie ertappt, begann sie breit zu lächeln. „Es ist nichts. Geh nur.“ Sie machte eine scheuchende Handbewegung.
„Ich erzähle dir später, wie es war“, sagte er mit flauem Gefühl im Magen.
„Natürlich tust du das. Ich sehe dich heute Abend.“ Er nickte und eilte hinaus. Für eine Sekunde heulte der Wind durch die offene Tür hinein, doch dann war es still. Und sie konnte endlich weinen. Sie wusste, dass er heute Abend nicht zurückkehren würde, und wenn sie tief in sich hinein hörte, war sie sich nicht einmal sicher, ob das eben nicht vielleicht sogar das letzte Mal gewesen sein sollte, dass sie ihrem Sohn in die Augen geblickt hatte. Ein Hustenanfall befiel sie.
Simlon spurtete die Straße hinab. Der Schnee auf dem holprigen Steinweg knirschte laut unter seinen Schuhen. Der Weg war nur gut zwei Meter breit, und zu beiden Seiten standen armselige, heruntergekommene Hütten aus Holz, die unter der Last des Schnees beinahe zusammen zu brechen schienen. Jeder Fremde hätte diese Straße für eine unwichtige Gasse gehalten, doch in Wahrheit war sie eine der größten in der linken Hälfte der Stadt Imigenien. Früher, hatte man Simlon erzählt, hatte es hier anders ausgesehen. Die Straße war in einem guten Zustand gewesen und hatte ein beliebtes Ziel für Reisende und Fremde dargestellt, doch davon war nicht viel übrig geblieben. Die Hütten verloren mehr und mehr an Glanz, und niemand war auf der Straße unterwegs.
Imigenien war in zwei Hälften geteilt: Die West- und die Osthälfte. Dies hier war die Westhälfte, die Seite der höher gestellten Einwohner. Doch von diesem Vorzug war nichts mehr zu spüren. Niemand, der hier wohnte, war noch wohlhabend, in den Zustand der Häuser war schon lange nichts mehr investiert worden, und die einst schillernde Handelsstadt war verkommen. Nur im Vergleich zur Osthälfte konnte man noch einen Unterschied erkennen. Dort regierte die Armut die Straßen wie ein unbarmherziger Tyrann. Die Stadt war sichtlich am Ende. Vor langer Zeit hatte es, nach Erzählungen der Alten, in der Armenhälfte noch deutlich besser ausgesehen als in der heutigen Westhälfte. Doch seit der Fürst von Dragon an der Macht war und seine Untertanen brutal unterdrückte und ausnahm, war Imigenien ein trostloser Ort geworden, sämtlicher Schönheit beraubt.
Simlon rieb sich die kalten Hände und hauchte sie mit seinem warmen Atem an. Er mochte die Stadt, sie war seine Heimat, und er kannte nichts anderes. Zwar erzählte man sich von der Pracht und dem Glanz anderer Orte in Nirada, doch Simlon hatte die Stadt nie verlassen. Er fühlte sich wohl hier, gerade seit er vor zehn Jahren aus der Ost- in die Westhälfte gezogen war. Kigror persönlich war damals gekommen und hatte ihm und seiner Mutter verkündet, eine Hütte sei frei geworden, und sie könnten sie jetzt bewohnen. Simlon wusste nicht, wieso er das getan hatte, aber es kümmerte ihn auch nicht. Das Leben war seitdem um einiges einfacher, und obwohl sie eine Menge Sorgen und Nöte hatten, war es nicht mehr so, dass jeder Tag ein Kampf ums Überleben war. Seine Mutter und sein Vater hatten früher immer in der Westhälfte gelebt, doch als sein Vater gestorben war, hatten sie umziehen müssen. Sein Vater…in Momenten wie solchen bedauerte es Simlon zutiefst, ihn nie kennen gelernt zu haben. Niemand wusste genau, was damals geschehen war. Manchmal gab er sich der aberwitzigen Fantasie hin, er könne noch leben, aber man hatte seine zurückgelassenen Sachen und eine Blutspur in den Bergen gefunden. Doch auch sonst war es unwahrscheinlich, dass er nie wieder nach Hause zurückgekehrt wäre, wenn er es irgendwie gekonnt hätte. Seine Mutter sprach nur in den höchsten Tönen von ihm. Es gab überhaupt keinen Grund dafür, warum er einfach verschwunden sein sollte. Ein Schauer, der nichts mit der Kälte zu tun hatte, kroch über Simlons Rücken, und er beschleunigte seinen Schritt.
Die Straße senkte sich nun ein wenig, und er konnte in der Ferne zwischen den tief liegenden Dächern der Hütten das Südtor erkennen, das die unnatürlich verwinkelte Stadt so wie die anderen drei nach den Himmelsrichtungen benannten Tore vor unerwünschten Eindringlingen schützte. Dort hinaus war er gestern zum ersten Mal in Begleitung der anderen Männer gegangen. Seine Mutter hatte ihn immer davor gewarnt: Hinter diesem Tor lag das Yurza-Moor, das größte und undurchdringlichste Moor ganz Niradas. Sich darin zu verirren, bedeutete den Tod zu finden, und selbst wenn man sich auskannte, konnte man im suppendichten Nebel leicht die Orientierung verlieren. Ein Feuer konnte er mittlerweile durch Magie entzünden, sodass er die Stadt nicht all zu oft zur Suche nach geeignetem Feuerholz verlassen musste.
Seine Mutter konnte das nicht, denn sie war nicht zauberkundig. In Imigenien war Magie eine Seltenheit, und wenn jemand sie beherrschte, dann nicht besonders ausgeprägt. Überhaupt gab es nur wenige Stämme, die über magische Kräfte verfügten. Die Mächtigsten von ihnen waren mit Sicherheit die Elfen, die sich in ihr Königreich im Süden zurückgezogen hatten und die Einflüsse aus Dragon so gering wie möglich zu halten versuchten, auch wenn sie dabei zunehmend in Bedrängnis gerieten. Einst hatte ein anderes Volk Nirada regiert - bevor der Fürst von Dragon die Macht übernahm - doch Simlon wusste nicht genau, was es damit auf sich hatte, schließlich war Dragon schon seit fünfzig Jahren an der Macht.
Als er endlich das große, aber morsch wirkende Südtor erreichte, fiel sein Blick auf das gewaltige Moor, das geheimnisvoll unter einer Nebeldecke verborgen lag. Die Sonne prallte auf die weiße Wand und beleuchtete sie auf magische Weise.
Hastig eilte er den Steilhang hinter dem Südtor hinab. Die Straße war so zugeschneit, dass es eigentlich keinen Unterschied machte, ob er auf ihr oder neben ihr ging. Also kraxelte er auf direktem Wege hinab, rutschte die glatten Eisplatten hinunter und hielt sich dabei an den ersten Sträuchern fest, die wie neugierige Forscher aus ihrem Schneeversteck hervor lugten. Am Fuße des Hanges angekommen, erblickte er sieben Männer, die mit wehenden Umhängen offenbar ungeduldig warteten.
„Verzeiht, Herr“, schnaufte Simlon laut, als er Kigrors harte Mimik sah. Er war erzogen, immer höflich und respektvoll zu sein. Doch dieses Mal half ihm das nichts.
„Was hat dich so lange aufgehalten?“, fragte der Statthalter barsch, schien jedoch keine Antwort hören zu wollen, denn er wandte sich rasch ab. “Nun los, wir wollen nicht noch mehr Zeit verlieren.“ Tringard grinste höhnisch, und für ein Sekunde hatte Simlon das Bedürfnis, ihm seine Faust in den Mund zu stecken, dann besann er sich, und folgte den im Schnee vorneweg stapfenden Männern. Er ärgerte sich, dass ausgerechnet er als Letzter hatte kommen müssen. Das machte keinen guten Eindruck.
Leoror, der Dorfschmied, ließ sich zurückfallen und ging nun auf einer Höhe mit Simlon.
„ Alles in Ordnung, Junge?“, fragte er auf seine schroffe Art. Simlon nickte.
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