Die Hütte bestand aus einem einzigen, kargen Raum: Neben dem Holztisch machten zwei Betten, ein rostiger Ofen und die glühende Feuerstelle das gesamte Inventar aus. Damit war der spärliche Platz auch fast vollkommen ausgefüllt. Die Hütte selbst war erbaut aus einer Mischung aus unbehauenem Stein und morschem Holz, und der Schnee und die Kälte, die die eisige Winternacht mit sich brachte, kroch schleichend durch kleine Ritzen in den Wänden.
Die Frau trug den Suppenkessel unter einiger Anstrengung zum Tisch hinüber und stellte ihn vor Simlon ab.
„Was ist das?“, fragte er geistesabwesend.
„Eintopf“, sagte die Frau kurzatmig und setzte sich auf den zweiten von drei alten Stühlen, der trotz ihres Fliegengewichts zu knarren begann. Sie füllte einen Teller mit einer grünlichen Pampe aus Bohnen, Lauch und anderem Gemüse, dessen Duft Simlon nicht zu deuten wusste.
„Danke, Mutter“, sagte Simlon knapp und nahm den Holzlöffel in den Mund. Während er aß, herrschte Stille in der Hütte, nur die unregelmäßigen Windzüge sangen eine schräge Melodie. Erst als Simlon fertig war, begann seine Mutter zu reden.
„Und wie ist es gelaufen? Der Weise lädt die Krieger Imigeniens nur so selten in seine Burg ein, und du bist gerade einmal fünfzehn.“ Simlon fand, dass sie ein wenig ungesund aussah und ihre Stimme war während seiner Abwesenheit noch heiserer geworden. Er schwieg. „War es aufregend, so ganz alleine mit den Erwachsenen? Ich weiß noch, wie sehr sich dein Vater immer auf die Treffen mit Jomera gefreut hat. Dieses stolze Leuchten...ich kann mich bis heute daran erinnern." In ihrer Stimme lag ein leichtes Zittern.
„Hast du dir sehr große Sorgen um mich gemacht?“ Simlons Frage schien sie völlig unvorbereitet zu treffen und ihr enthusiastisches Lächeln fiel enttarnt in sich zusammen. Sie zögerte einen Moment, doch dann kicherte sie in einer untypisch hohen Stimmlage.
„Nein, natürlich nicht. Wie kommst du darauf?“
„Du weißt schon“, sagte Simlon vorsichtig, „weil er damals nicht zurückgekehrt ist.“
„Das mit deinem Vater war ein Unfall. Ein tragischer Unfall. Und überleg dir nur, wie stolz er heute auf dich wäre. Du musst ihnen wirklich etwas bedeuten, wenn sie dich schon so früh mitnehmen.“ Sie stand abrupt auf, und der Stuhl scharrte über den Boden. Simlon dachte für einen Moment an seinen Vater. Als er drei Jahre alt gewesen war, war er auf dem Weg von der Stadt zur Burg des Weisen von einem Schneesturm überrascht und nie gefunden worden. Simlon besuchte sein leeres Grab auf dem weißen Friedhof gemeinsam mit seiner Mutter einmal die Woche.
„Ich bin ja wieder da“, sagte er tonlos und blickte prüfend auf den Rücken seiner Mutter, während sie den Suppentopf in eine Ecke räumte. Er sah ihre spitzen Schulterblätter durch den dünnen Stoff ihres Oberteils arbeiten, als sie das Feuer löschte.
„Ich lege mich hin“, entschied sie, „und das solltest du auch tun.“
„Willst du nicht wissen, was der Weise gesagt hat?“, fragte er sie verwundert, während sie nun auch die Kerzen auspustete, die auf dem Tisch brannten.
„Erzähl es mir morgen, ja?“, sagte sie und schenkte ihm ein so liebevolles Lächeln, wie nur sie es konnte. Dann legte sie sich in ihr hartes Bett, hustete erst für einige Minuten und dann war nur noch ihr gleichmäßiger schnaubender Atem zu vernehmen.
Auch Simlon war müde, der Tag war sehr lang gewesen, immerhin dauerte der Weg von Imigenien bis zum Schloss des Weisen an die drei Stunden, und der Rückweg war noch mal genauso lang. Aber er war zu aufgewühlt um zu schlafen. Was würde der Weise ihnen verkünden? Simlon hatte das Gefühl, der kalte Wind würde ins Innere dringen, denn plötzlich hatte er eine Gänsehaut.
Eisige Kälte riss Simlon aus einem unruhigen Schlaf. Er war auf dem Tisch eingeschlafen, und als er den Kopf aus den Armen hob, erblickte er Tringard, der mit missbilligendem Blick in der offenen Tür stand. Neben ihm stand Kigror, die beiden sahen sich so ähnlich, dass sie Zwillinge hätten sein können, wenn in Kigrors Gesicht nicht einige feine Falten zu sehen und sein Haar nicht etwas schütterer gewesen wäre. Sie sahen ohne Zweifel deutlich gepflegter als die Mehrheit der Bevölkerung aus. Hastig erhob sich Simlon aus seiner unwürdigen Haltung, wischte sich grob einen Speichelfaden aus dem Gesicht und verbeugte sich tief.
„Guten Morgen, Herr!“ Er sah, dass Tringard überheblich den Kopf schüttelte, und Wut überkam ihn. Er konnte diesen Kerl nicht ausstehen.
Kigror nickte ungeduldig. „Der Weise hat am Morgen Kontakt zu mir aufgenommen und mir verkündet, dass er uns schon heute wieder auf der Burg erwartet. Dieselben Männer. Dich eingeschlossen. Also, mach dich bereit, wir treffen uns in einer halben Stunde hinterm Südtor“, sagte er ohne jede Herzlichkeit, machte auf dem Absatz kehrt und verschwand.
„Bist du dir sicher, dass du die da allein lassen kannst?“, sagte Tringard und nickte abfällig zu dem Bett, in dem Simlons Mutter schlief, „Sieht krank aus.“ Simlon machte einen Schritt zur Seite vor das Bett seiner Mutter.
„Sie wird bestimmt zurecht kommen“, sagte er, bemüht nicht unfreundlich zu klingen. Er hatte genug davon, dass Tringard ihn schikanierte, doch er wusste auch, dass er es sich nicht erlauben konnte, respektlos zu sein, immerhin war Tringard zwei Jahre älter als er und der Sohn des Statthalters.
„Das wage ich zu bezweifeln, sie sieht aus als würde sie sich mit den Hunden das Essen teilen. Und um ehrlich zu sein, weiß sowieso niemand, warum wir dich überhaupt mitnehmen. Es wäre für alle das Beste, wenn du zu Hause bleiben würdest.“
„Das würde ich tun, wenn Euer Vater es mir gebietet“, entgegnete Simlon ruhig. Er musste sehr darauf bedacht sein, was er sagte, denn ihm war klar, dass Tringard nur nach einem Grund suchte, ihn da zu lassen. Den Gefallen werde ich ihm nicht tun, sagte er sich entschlossen. Tringard schien verstimmt, aber gab nicht nach.
„Mein Vater hat auch keinen Schimmer, aber Jomera will es so. Er muss senil geworden sein, unser Weiser, schließlich bist du nicht mal dazu in der Lage, durch Magie Wasser zu erhitzen.“ Im selben Moment entflammte eine kleine Stichflamme unter der Feuerstelle und die darüber baumelnde Teekanne begann schwach zu summen.
„Vielleicht habt Ihr Recht“, entgegnete Simlon und schaute ihm direkt in die Augen. Tringard schien irritiert, doch er entschied offenbar, dass es Zufall gewesen sein musste.
„Respekt! Als Hausfrau wärst du sogar eine Bereicherung für diese Welt. Ich muss los, aber du kannst mir später gerne noch ein paar Tricks zeigen.“
„Es wäre mir eine Ehre“, sagte Simlon. Tringards Umhang flog durch die Luft, und er stapfte seinem Vater hinterher, ohne die Tür zu schließen. Simlon ließ die Schultern sinken und atmete aus. Normalerweise war er nicht besonders schlagfertig, man konnte ihn gar als konfliktscheu bezeichnet. Er war ein stiller Junge, manch einer mochte seinen Charakter gar als unterwürfig oder demütig ansehen, aber Simlon selbst sah das anders. Er trug lieber stumme Verantwortung, und handelte lieber als zu sprechen. Obwohl er sich oft wünschte, ein wenig mutiger zu sein und mehr für sich einzustehen, so hatte er doch meistens das Gefühl sich auf sich selbst verlassen zu können. So wie dieses Mal: Er hatte einen Sieg errungen. Sehr zufrieden mit sich drehte er sich um und bemerkte, dass seine Mutter ihn mit denselben klaren blauen Augen anstarrte, die er selbst auch hatte. Sie hustete kurz und lächelte.
„Dem hast du es richtig gezeigt!“, sagte sie stolz. Ihre Heiserkeit schien über Nacht besser geworden zu sein.
„Das ist kein Wettbewerb, Mutter“, entgegnete Simlon verlegen.
„Stell dein Licht nicht immer unter den Scheffel. Du bist ein einzigartiger Junge, Simlon, mit einem aufgeweckten Geist und über dein Können brauchen wir nicht zu diskutieren. Das kann man von diesem verzogenen Tringard nicht sagen. Ein bisschen mehr Selbstbewusstsein würde dir nicht schaden, Junge.“
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