Die einstmalige Pracht, errichtet über viele Jahrhunderte mit Muße, törichter Extravaganz und Herzblut, sie war in einem Hauch vom Gesicht der Erde geblasen worden. Was heute noch niemand zu beurteilen vermochte, war, dass die heutige Órafar Normir vielleicht nicht die schwerwiegendste der drei nullten Stunden war, aber die mit den schwerwiegendsten Folgen. Denn jeder Untergang des einen bringt Gelegenheiten für den Aufstieg eines anderen mit sich. Eine Gestalt, von Kopf bis Fuß in einen schwarzen Umhang gehüllt, trat zwischen den Trümmern auf die Reste der einstmaligen Hauptstraße. Erhaben, unberührt von der Zerstörung um sie herum, setzte sie gemächlich einen Fuß vor den anderen. Ihre Gangart hatte etwas Zerstreutes an sich, als wisse sie genau, wo sie stand, konnte es jedoch nicht begreifen. Die Gestalt sah zu, wie ein gebrochenes Windfähnchen im hilflosen Versuch, das Feuer zu löschen, das es erfasst hatte, verrückt vor sich hin rotierte, während die Flammen es langsam zerlegten wie ein vierblättriges Kleeblatt. Der Matsch auf dem Boden stank widerlich und ließ der Gestalt endgültig klar werden, dass die Stadt gebrochen war. Noch vor wenigen Stunden wäre dieses Zeichen der Verwahrlosung in einer Gesellschaft, die Reinheit und Hygiene beinahe bis zur Besessenheit vollstreckte, umgehend beseitigt worden. Jetzt war das nicht mehr der Fall. Ein gebrochenes Wasserrohr versprühte wie im Wahn seine Füllung. Eine goldene Glocke, einst Aushängeschild der vierten Kapelle, lag gespalten und zur Schmucklosigkeit verdammt auf dem aschfahlen Stumpf einer stattlichen, gefallenen Eiche. Dann sah die Gestalt die Leichen. Drei tote Männer in festlichen, zerfetzten Gewändern mit Rußflecken auf ihren glatt rasierten Gesichtern lagen ehrlos unter den Steinen eines Hauses. In den Überresten einer geplatzten Glasscheibe sah die Gestalt ein junges Mädchen, das schon fast nicht mehr als solches bezeichnet werden konnte. Die Stadt würde sich nie wieder von diesem Unglück erholen. Doch die Gestalt hatte keine Gefühle. All das Elend war ihr vollkommen gleichgültig. Und während unweit von ihr die Reste eines majestätisch angelegten Brunnens in sich zusammenfielen, lächelte sie. Denn die Essenz von Órafar Normir ist und bleibt, dass jeder Untergang des einen Gelegenheiten für den Aufstieg eines anderen mit sich bringt. Und die Gestalt würde diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen. Ihr Zeitalter sollte anbrechen.
„Wir schaffen es einfach nicht mehr!“, sagte Tringard entschieden. Zustimmendes Gemurmel machte sich breit.
Es waren acht Männer in der Burg. Das Licht der Fackeln schimmerte matt in der Dunkelheit des glanzlosen Raums mit nackten Steinwänden. Alle scharten sich um den Weisen Jomera. Auf seinem Gesicht lag ein nachdenklicher Ausdruck, während er sich ruhig anhörte, was die Horde unruhig durcheinander rufender Männer ihm zu sagen versuchte. Erst jetzt ergriff er das Wort, und sofort kehrte absolute Stille ein. Seine Stimme klang alt und ein wenig zittrig, doch sie enthielt eine Würde und Autorität, die die Männer verstummen ließ.
„Bleibt ruhig.“ Falls man sich mehr von dem hageren Alten erhofft hatte, wurde man enttäuscht. Das merkte auch Tringard, doch er wollte nicht locker lassen.
„Bleibt ruhig?“, wiederholte er schnaubend. Seine Stimme bebte. „Wir sind jahrelang ruhig geblieben und haben zugesehen, wie der Fürst über unser Land hergezogen ist! Wir haben jahrelang den Schutztribut zahlen müssen, den er uns aus den Rippen wringt als wären wir nasse Waschlappen! Jahrelang! Bald ist er wieder fällig, und ich frage Euch, was wir dann tun sollen, Jomera. Wir haben keinen Za (einheimische Währung) mehr übrig, und Ihr wisst genauso gut wie wir, dass er das nicht akzeptieren wird. Der Fürst wird ganz Imigenien in Schutt und Asche legen. Wir werden alles verlieren- das wisst ihr genauso gut wie wir- aber Ihr gebietet uns, ruhig zu bleiben?“ Einige der Männer nickten zustimmend und grummelten unverständliche Worte in ihre Bärte. Der Weise sah Tringard durchdringend an. Dann erfüllte die Ehrfurcht gebietende Stimme wieder den Raum.
„Nun, Tringard. Du hast einmal mehr bewiesen, dass du vielleicht heißblütig, aber keineswegs klug bist.“ Tringard blickte beschämt zu Boden und lief rot an. „Einen guten Krieger macht aus, dass er Weisheit und Kraft zu vereinen weiß. Sei es drum, du bist noch sehr jung, und es sei der Jugend verziehen, sich auch einmal im Ton zu vergreifen.“ Er klang nicht unfreundlich, doch es schwang ein merklich tadelnder Unterton in seinen Worten mit.
„Verzeiht mir, Jomera“, sagte Tringard kleinlaut, obwohl er auch ein wenig trotzig dreinblickte. Der Alte ging nicht darauf ein.
„Nein, wenn ich sage, bleibt ruhig, meine ich selbstverständlich nicht, dass ihr tatenlos zuschauen sollt, wie der Fürst von Dragon unser Imigenien in Kummer und Armut versenkt.“
„Sondern?“, fragte Kigror, Statthalter von Imigenien, der Hauptstadt des Landes Ankorila. Er blickte von seinem Sohn Tringard zu dem Weisen, der nun mit außergewöhnlich gradem Rücken vor den Männern auf- und abschritt.
„Ich meine damit, dass der, der eine Lösung sucht, die Antwort nur finden kann, wenn er auf sich selbst hört.“ Die Männer schauten sich verwirrt an, als habe Jomera plötzlich eine fremde Sprache gesprochen.
„Aber, verzeiht Herr“, sagte Simlon, der Kleinste und Jüngste der Gruppe, offensichtlich nervös. Sein weiches, jungenhaftes Gesicht färbte sich in ein aufgeregtes Rot unter dem dunkelblonden mittellangen Haar, von dem ihm eine dünne Strähne in die Stirn fiel. In seinen runden, schimmernden Augen standen Unschuld und Erfahrungslosigkeit geschrieben, aber nichts von der Engstirnigkeit und Furcht vor Veränderung, die alle anderen Anwesenden mit sich trugen. Es war nicht unbedingt Abenteuerlust, aber die Begierde nach Wissen über alle Facetten des Lebens, der Wille die Welt zu sehen, wenn sich nur jemanden erübrigte, sie ihm zu zeigen. „Ich verstehe nicht. Was meint Ihr mit 'auf sich selbst hören'?"
„Schweig, Simlon“, fuhr Kigror ihn an, „du bist nicht befugt das Wort an…“ Doch der Weise ließ ihn mit einer weiteren Geste verstummen und betrachtet den Jungen vor sich genauer. Er wirkte ganz aufgeregt und sein leicht schräger Mund zuckte unwillkürlich. Jomera lächelte geduldig, und seine gütigen Augen leuchteten in einem fantastischen Azurblau über die habichtartige Nase hinweg.
„Es ist ganz einfach, Simlon. In Ruhe liegt Kraft. Wer sich selbst kennt, kann sie finden." Ohne dass irgendjemand richtig folgen konnte, fuhr er fort. „Ich hätte euch nicht ohne Grund aus der Stadt zu mir gebeten. Ich weiß ganz genau, was es zu tun gilt.“
„Könnt Ihr uns dann an Euren Plänen teilhaben lassen, Weiser?“, fragte Kigror vorsichtig. Der Alte schüttelte ruckartig den Kopf.
„Nein, heute wollte ich mich nur davon überzeugen, dass meine Vermutungen zutreffen.“ Er ließ offen, ob dies geschehen war. „Ich denke, in drei Tagen werde ich mir zurecht gelegt haben, wie es weitergehen soll. Doch das kann ich nur alleine und in äußerster Ruhe, deshalb bitte ich euch nun zu gehen.“ Verwundert öffnete Kigror den Mund, und auch Tringard schien sich nicht damit abfinden zu wollen.
„Geduld, Kigror, sie schadet dir nicht. Schon bald wird die Macht des Fürsten auf die Probe gestellt werden. Geht nun, und vergesst nicht, euch Zeit zu nehmen, einmal auf euch selbst zu hören. Vielleicht findet einer von euch die Antwort ja dann selbst.“
Eine dürre Frau stand über einem kleinen Feuer und rührte in einem Suppenkessel, aus dem ein wohlriechender Duft strömte, als Simlon aufgeregt die kleine Hütte betrat. Verwirrt schaute sie auf.
„Simlon, du bist schon zurück?“, fragte sie und schob sich ihr buschiges, zerzaustes schwarzes Haar aus dem Gesicht, das sehr hübsch sein musste, wenn man die Armut davon abwaschen würde. Simlon setzte sich an den robusten Holztisch und schnaufte durch.
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