„Das werden sie. Wenn sie dich wieder sehen.“ Das Wenn hatte dabei so fragwürdig geklungen, dass es Jamie Angst machte. Gwin sah ihn mitfühlend an. „Manchmal muss Vergangenes zu Vergangenem werden, damit wir die Zukunft neu erleben können.“ Der Hüne hatte kurz den Arm um Jamies Schultern gelegt, und obwohl es befremdlich war, tröstete es ihn doch ein wenig.
Seitdem hatte Jamie oft an seine Eltern denken müssen, doch er hatte sich immer besser an den Gedanken gewöhnt, dass Gwin sie durch sein Handeln vor Gefahr geschützt hatte. Schließlich wussten die Soldaten sogar, wo er wohnte, und hatten seine Haushälterin abgeschlachtet, nur weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. Er war froh, dass sie in Sicherheit waren. Egal, was der Preis war. Aber ihm wurde klar, was das bedeutete: Es gab niemanden mehr, außer Gwin, der ihm zur Seite stand. Er würde ganz allein sein.
Gwin schwang sich nun einen Reisebeutel aus Leder um den Hals, der an seiner Hüfte baumelte und ihm das groteske Aussehen eines naturfreundlichen Rucksacktouristen verlieh. Jamie prustete los, doch verkniff es sich, als Gwin ihn fragend ansah.
„Lass uns gehen.“
Er öffnete die Tür und hatte für einen kurzen Moment das Gefühl, jemand habe die Sonne vom Himmel geklaut.
„Gwin, es ist dunkel.“
„Eine vortreffliche Feststellung. Eines Auserwählten würdig“, sagte Gwin trocken, „allerdings kaum verwunderlich, wenn man bedenkt, dass der Tag erst vier Stunden alt ist.“ Jamie sah Gwin an, als habe er gerade vorgeschlagen, Jamie Lockenwickler in die Haare zu drehen. Gwin zuckte entschuldigend. „Wir haben einen langen Weg vor uns.“ Mit diesen Worten stapfte er voraus. Jamie fröstelte leicht und seine Armhaare stellten sich auf.
Die Hütte lag zwischen einigen Bäumen auf einem kleinen Hügel, doch im Moment war es tatsächlich noch zu dunkel, um viel von der Umgebung erkennen zu können. Nachts musste es geregnet haben, denn das Gras war glitschig und durchnässte Jamies Schuhe. Der Geruch nach feuchter Erde und Morgentau drang in sein Nase.
„Wo gehen wir hin?“, rief er Gwin hinterher, der sich mühelos die Böschung hinunter arbeitete, während Jamie bei jedem Schritt darauf achten musste nicht auf dem matschigen Boden wegzurutschen.
„Das erkläre ich dir gleich“, rief Gwin von weiter unten. Jamie blickte hinauf zum Himmel, an dem ein glänzender Halbmond matt strahlte. Warum hatte Gwin es so eilig? Hatte man sie etwa entdeckt? Unwillkürlich sah er sich in den Weiten der Felder um, die von einem hübschen, milchigen Dunstschleier eingekleidet wurden, doch er konnte nichts erkennen, außer den dunklen Umrissen eines Fuchses, der auf seiner Jagd nach Kleingetier wie ein Schatten umher schlich.
Sie liefen ungefähr eine Stunde durch Wald und Feld, und der Himmel begann sich langsam rot zu verfärben. Jamie genoss den Anblick, wie die Sonne den Horizont erleuchtete, und vergaß dabei für einen Moment all die Sorgen, die auf ihm lasteten.
„Hörst du mir zu?“, fragte der Hüne heiter, und Jamie blickte ihn müde an.
„Was? Wo sind wir eigentlich?“, fragte er und wischte sich klebrig-kalten Schweiß von der Stirn.
„In der Nähe von Nottingham.“
„Wann sind wir denn soweit nördlich gewandert? Und was machen wir hier?“
„Nun“, sagte Gwin und stockte kurz, „du hast dich bestimmt gefragt, was ich in den letzten Wochen getan habe, als ich dich in den Hütten alleine gelassen habe. Ich habe nach etwas gesucht. Und hier bin ich fündig geworden.“
„Meinen Glückwunsch. Und was ist es?“
„Das Tor.“ Jamie hielt inne. Eine nervöse Unruhe setzte in ihm ein, wie wenn man nicht erwarten kann, dass das beginnt, wovor einem eigentlich graut, weil das Warten darauf einen noch mehr in den Wahnsinn treibt. Mit dieser Neuigkeit hatte er gar nicht gerechnet.
„Und wo ist es?“
„Es muss irgendwo in den Wäldern um Nottingham liegen, ein ganzes Stück weiter nördlich von hier. Das bedeutet, die Ankunft des Auserwählten steht kurz bevor. Die Suche wird jedoch nicht einfach, deswegen brauchen wir so lange wie möglich Tageslicht.“
„Na klasse, und wir sollen wir jetzt noch weiter nördlich kommen?“, fragte Jamie und bemerkte unglücklich seine pochenden Füße, die schon von dem vorigen Marsch ein wenig schmerzten.
„Mit magischer Hilfe wird es nicht gehen, denn wie du ja weißt, bemerken die Drago-Soldaten die Aura von solch kraftvollen Zaubern. Bis wir im Schutzbann sind“, er ließ offen, was er damit meinte, „müssen wir daher auf eure Mittel zurückgreifen.“ Jamie verstand nicht ganz.
„Das heißt…?“
„Das heißt, wir nehmen den Bus“, sagte Gwin. Jamie schaute amüsiert.
„Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?“
„Oh doch, und wie“, sagte Gwin wie selbstverständlich, und Jamie schnaubte. Bus fahren kam ihm bei allem, was er in den letzten Wochen erlebt hatte, so unnormal normal vor, dass er sich darüber freute. „Gleich hinter diesem Waldstück“, Gwin deutete auf die Bäume hinter sich, „liegt eine Straße. In etwa einer Viertelstunde“, sagte er mit Blick zur aufgehenden Sonne, als könne er auf ihrer gleißenden Oberfläche Zeiger erkennen, „kommt der erste Bus.“
Tatsächlich stolperten sie wenig später auf eine feuchte, zweispurige Straße, an deren Rand eine kleine, morsche Holzhaltestelle mit drei Sitzplätzen ins Nichts gepflanzt worden war. Das Schild, auf dem der Name der Station stand, war komplett verwittert und wurde von einigen heimischen Pilzen besiedelt- offenbar wurde die Haltestelle nicht allzu oft genutzt.
Wenige Minuten später kündigte stotterndes Motorengeräusch die Ankunft des Busses an. Gwin schien alles wirklich gut geplant zu haben. Der kauzige Busfahrer schien äußerst überrascht, dass jemand an dieser abgelegenen Station zusteigen wollte, als sei das noch nie vorgekommen, und als er Gwins massige Statur sah, war Jamie sich sicher, dass er einen Überfall fürchtete.
„Zweimal, bitte“, sagte Gwin freundlich. Der Busfahrer begann etwas vor sich hin zu murmeln, dann überreichte er ihnen die Fahrscheine, und Jamie und Gwin ließen sich auf einem Doppelsitz nieder. Außer ihnen saßen eine schlafende Frau und ein kahl geschorener Mann im Bus, dessen Augen so unnatürlich rot waren, dass er bei einem Stierkampf das Tier auch ohne Tuch reizen würde, und der unentwegt komische Geräusch machte, als wolle er eine Taube imitieren. Kopfschüttelnd wandte Jamie sich wieder Gwin zu, der den großen Reisesack auf seinem Schoß ablegte.
„Wie lange fahren wir?“, fragte Jamie, und Gwin räusperte sich.
„Nicht lange. Vielleicht zwanzig Minuten. Es fällt mir schwer, den Standpunkt des Tores genauer zu bestimmen, deswegen kann ich nicht genau sagen, wo es am besten wäre mit der Suche zu beginnen.“
„Was ist denn so schwer daran?“, fragte Jamie, und Gwin zog die Mundwinkel hoch.
„Dass die Tore nicht gefunden werden wollen. Um genauer zu sein, wollen sie nicht mal, dass irgendjemand von ihrer Existenz erfährt.“
„Hört sich so an, als seien diese Tore ein eingeschworener Verein von übervorsichtigen Türstehern…“, witzelte Jamie, doch Gwin sah ihn nur hohl an.
„Ziemlich komisch. Du scheinst nicht ganz zu verstehen, mit was für außergewöhnlich magischen Objekten du es zu tun hast. Sie ebnen einen Pfad, der auf keinen Fall missbraucht werden darf. Fremde haben in der jeweils anderen Dimension nichts verloren, sonst werden sie aus dem Gleichgewicht gebracht. Deshalb ist das Privileg, durch Tore zu gehen, auch nur den größten Magiern vorbehalten. Es wäre kaum auszudenken, was passieren würde, wenn die Dimensionen zu eng miteinander verbunden wären.“
„Was würde dann geschehen?“
„Ich weiß es nicht. Aber wie gesagt, Dimension bleibt Dimension. Ursprünglich dienen die Tore auch nur einem einzigen Ziel: Dem Schutz. Sobald eine Dimension in Gefahr ist, sollte es ihren Bewohnern möglich sein, die Unterstützung der anderen Dimension zu ersuchen.“
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