„Herr, ich kann nicht sagen, wie…“ Doch ehe der junge Wächter zu Ende sprechen konnte, wurde er von einem Luftstoß erfasst und schrie so überrascht auf, dass er beinahe seine Zunge verschluckt hätte, als er gegen die Steinwand gepresst wurde. Der Vermummte stand direkt vor ihm, mit einer Hand an seinem Kragen, einer Hand, an der ein Finger fehlte.
„Du willst wissen, was ich will?“, fragte er, immer noch bedrohlich leise, „ ich will ihn sehen. Sofort!“ Er zog seine Kapuze hinunter, und der beinahe in Tränen ausbrechende Wächter stöhnte auf, denn das Gesicht des Mannes war von zwei großen Narben gezeichnet, die seinen Zügen einen abstoßenden und rohen Anstrich verliehen. Sie liefen an Kinn und Wange entlang wie zwei Schlagen und trafen sich kurz unterhalb der unwillkürlich zuckenden Mundwinkel. Sein langes, schwarzes Haar begann zu ergrauen und wirkte wild. Das Irritierendste jedoch waren seine Augen: Sie lagen so ausdruckslos in tiefen Höhlen, als wären sie schon lange tot, und so grau wie der Himmel an diesigen Herbsttagen.
„Bitte! Verzeiht!“, winselte der Mann.
„Wie heißt du?“, fragte der Mann nun, und seine Hand drückte das Kinn des Wächters so weit zurück, dass dieser zu röcheln begann.
„Jenaheen, Herr“, stöhnte der Mann, „bitte, verschont mich, Herr!“ Erstmals lächelte der Gast. Seine Augen bewegten sich dabei nicht. Dann lockerte er seinen Griff, und Jenaheen sackte würgend in sich zusammen.
„Bring mich zur Röhre“, befahl der Mann dem Wächter, der Jenaheen zuvor zur Hilfe gekommen war, und der Mann eilte herbei, als ginge es um sein Leben. Kein anderer wagte es, sich zu rühren. Mit einem Ring an der linken Hand berührte der Wächter die weiße Steinwand an einer bestimmten Stelle, woraufhin sie knarrend nach innen aufschwang und den Blick auf eine längliche, silberne Röhre freigab, in die der Wächter und der Vernarbte nun hinein stiegen.
Der Wächter linste unauffällig zu seinem Begleiter hinüber, der in den tosenden Himmel starrte und dann den Blick aus seinen tiefgrauen Augen still auf den jungen Jenaheen richtete, der sich gerade an der Wand hochzog und wackelnd auf die Beine kam.
„Stringar!“, sagte der Vernarbte ohne Regung. Augenblicklich klappte Jehaneen wieder zusammen. Er war tot. Dann begann die Röhre zu vibrieren und zu zischen, wurde schneller und ließ die geschockten Wächter mit der Leiche ihres Kumpanen zurück.
Die Röhre zischte durch einen Schacht durch die gesamte Burg, dann, so schnell, wie sie gestartet war, stoppte die Fahrt, und der Mann trat hinaus in einen dunklen Raum.
„Wie heißt du?“, fragte er den Wächter spröde.
„Ich, Herr? Laudror, Herr“, sagte der Wächter mit zittriger Stimme und verbeugte sich hastig. Grundas nickte stumm. Laudror öffnete den Mund und blickte so elendig und angsterfüllt drein, dass der Vernarbte leicht zitterte. Wie erbärmlich.
„Herr…Ich…“
Ohne Vorwarnung loderte eine Flammensäule in der Röhre auf, und mit einem schrillen Schrei verabschiedete sich auch Laudror aus der Welt der Lebenden. Das Narbengesicht starrte gedankenverloren, als versuche es, sich an eine Passage in einem Gedicht zu erinnern, auf die Stelle, wo eben noch die Röhre gewesen war.
„Grundas!“ Zum ersten Mal flammte eine Emotion in dem Mann auf. Er wandte sich um. Der Raum vor ihm lag in Schatten und wurde nur von seltsamen, umherschwirrenden roten Lichtern erhellt, die panisch einen Ausweg zu suchen schienen. Tropfgeräusche wie in einer Tropfsteinhöhle drangen an Grundas Ohren, dann erklang ein Zischen, als träufelten Wasserperlen auf einen sehr heißen Stein.
Der Raum war länglich und wirkte größer als er war, mit hohen Decken und in Schatten verborgenen Wänden. Keine Lampen, kein Schmuck, kein gar Nichts verlieh dem Raum die Bedeutung, die er eigentlich hatte. Und in seiner Mitte, auf einem schlichten schwarzen Thron saß eine gebieterische Gestalt. Der Fürst von Dragon trug wie Grundas einen schlichten schwarzen Umhang aus edlem Stoff, und auch seine Hände, die erhaben auf den Lehnen des Throns lagen, waren mit einer dunkelblauen Stoffschicht bedeckt. Auf seiner Brust schimmerte ein schweres, silbernes Amulett, das in der Dunkelheit des Thronsaals zu leuchten schien. Über dem Rumpf begann die Spiegelbarriere, die seine Gestalt verzerrte und verformte, und die Nirada das Fürchten gelehrt hatte. Der gesichtslose Herrscher, dachte Grundas ehrfürchtig. Der Fürst hatte die Barriere noch nie gelichtet. Sie machte es unmöglich, mehr als einige grobe Schatten hinter ihr auszumachen, die Schatten einer Person, deren Identität niemand kannte.
Ein Gefühl des Triumphs erfasste Grundas, doch er senkte schnell den Blick, damit der Fürst es nicht in seinen Augen las. Das machte er immer so - er war ein Mann, der ständig auf der Hut war.
„Herr“, sagte Grundas und verbeugte sich nun seinerseits. Der Fürst schwieg, sodass Grundas in der unwürdigen Position verharren musste.
„Gibt es Nachrichten?“, fragte der Fürst schließlich, sogar seine Stimme war bis zur Unkenntlichkeit verzerrt, und Grundas erhob sich. Es war keine Frage, sondern eine Forderung.
„Ja Herr. Es gibt viele Neuigkeiten.“
„Gute?“
„Ich fürchte, nein“, entgegnete Grundas und vermied den Blick des Fürsten. Der Herrscher bewegte sich nicht, doch man spürte, dass ihm diese Aussage missfiel. Grundas atmete tief ein, dann sagte er: „Meine Männer haben vorhin von Zorlan gehört. Es ist nun ganz sicher, dass es sich bei dem Jungen in Imigenien um den Auserwählten handelt. Es ist ihm gelungen, die Soldaten zurückzuschlagen. Zorlans Informationen zufolge befindet er sich auf einer Burg. Der Weise Jomera ist bei ihm.“ Ein Schnauben war vom Fürsten zu hören, doch da man sein Gesicht nicht sah, wusste Grundas nicht zu deuten, ob es ein spöttisches oder ein wütendes war.
„Ich habe damit gerechnet, dass der Tag bald kommen würde, deshalb kann ich nicht sagen, ich sei überrascht. So erfüllt sich eine weitere Prophezeiung. Zorlan hat gute Arbeit geleistet.“
„Ich werde es ausrichten lassen“, sagt Grundas. Es gefiel ihm nicht, das zu hören.
„Das wird nicht nötig sein. Zorlan weiß bereits Bescheid. Aber genug. Hat man eine Spur des Hellsehers gefunden?“
„Noch nicht, Herr.“
„ Nun, solange wir den Inhalt seiner Prophezeiungen kennen, sollte das keine Priorität sein. Wir werden auch die anderen zu deuten wissen.“ Wieder nickte Grundas und atmete tief ein, denn die nächsten Nachrichten würde der Fürst nicht so gelassen hinnehmen.
„Ich habe Bericht aus der anderen Dimension erhalten. Es ist den Soldaten nicht gelungen, den zweiten Auserwählten zu töten.“ Der Fürst verströmte eine eisige Kälte.
„Wie ist das möglich?“, fragte er scharf, als rausche eine frisch geschliffene Sense durch den Saal.
„Es sieht aus, als habe der Junge Unterstützung erhalten, Herr. Unterstützung aus Nirada.“
„Wer?“
„Gwin, der Verbannte.“ Die Luft schien sich zusammenzuziehen. Ein Krächzen ließ Grundas aufblicken. Ein schwarzer Adler segelte von der Decke hinab, als sei er durch eine unsichtbare Öffnung hinein gekommen. Er drosselte seine Geschwindigkeit mit den gewaltigen schwarzen Schwingen und ließ sich auf dem Arm des Fürsten nieder. Herrisch funkelte der Vogel Grundas aus schwarzen Knopfaugen an.
„Deshalb also haben meine Männer ihn nicht ausfindig machen können. Der Feigling ist in die andere Dimension geflüchtet, um mir zu entkommen. Doch das wird ihm niemals gelingen. Er entkommt mir nicht!“ Die Worte donnerten in dem großen Saal und die roten Lichter flackerten. „Dass der Verbannte bei ihm ist, wirft ein neues Licht auf die Situation. Es wird besser sein, meine Soldaten von einem fähigen Krieger führen zu lassen. “
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