„Aber ist es nicht genau das, was wir tun?“, fragte Jamie mit rauchendem Kopf.
„Wir schon. Der Fürst aber nicht. Er unterwirft sein Tor mit schwarzer Magie. Ich will gar nicht wissen, was für Schäden er dadurch schon verursacht hat, gerade weil er auch noch die unerklärliche Macht hat, das Tor dauerhaft geöffnet zu halten, sodass seine Krieger zwischen den Dimensionen hin und her springen können wie auf einem Schachbrett.“
„Heißt das, wenn der andere Auserwählte hier sein wird…schließt sich das Tor? Können wir nicht direkt durch das Tor zurück?“ Gwin lachte und es klang ein wenig bitter.
„Nein. Das Tor wird sich in dem Moment schließen, in dem er die Dimension betritt. Von da an wird es unsere Aufgabe sein, eines der anderen Tore zu finden, die von hier nach Nirada führen.“
„Aber woran erkennt man so ein Tor?“
„Nun, darauf gibt es keine klare Antwort. Sobald ein Tor benutzt wurde, schließt es sich und taucht an einer ganz anderen Stelle wieder auf. Das kann auf dem Grund des Meeres oder dem höchsten Gipfel eines Berges sein.“
„Dann ist es ja beinahe unmöglich, eines auszumachen“, erschrak Jamie.
„Wie schön, dass du die Tragweite des Problems erkennst. Dennoch, es ist nicht so, dass die Tore nicht gekennzeichnet sind“, sagte Gwin beruhigend, „immer dort, wo sich ein Tor befindet, entsteht ein großes Steingrab, ein Hünengrab, um den Eingang zu verdecken. Wo immer dieses Grab entsteht, ist soeben ein Tor erschienen.“
Jamie lehnte sich zurück. Es war zwar schön und gut, dass ein solches Grab aus dem Boden spross, doch was nützte das, wenn es an einem Ort geschah, an dem kein Mensch es jemals sehen würde? Jamie wurde klar, was das eigentlich bedeutete. Bis vorhin hatte er gedacht, er würde einfach mit dem Auserwählten zurückgehen. Doch so einfach war das wohl nicht - sie würden die ganze Welt nach einem der Tore absuchen müssen! Ein Gefühl der Enttäuschung machte sich in ihm breit und ihm wurde bewusst, wie klein er eigentlich im Vergleich zu dieser Welt war. Er kratzte seine Wange und sah aus dem Fenster. Der Wald glitt an der Scheibe vorbei, gleichförmig und endlos weit. Überall dort, dachte Jamie, überall dort könnte ein Tor sein...
Der Bus kam quietschend zum Stehen.
„Wir müssen aussteigen“, entschied Gwin und erhob sich. Jamie lief ihm hinterher an dem seltsamen Taubenmann vorbei, der sie offenbar verängstigt angurrte, und sie verließen den Bus. Die Station sah fast genauso aus wie die, an der sie eingestiegen waren, nur dass die Schatten der Bäume etwas kürzer geworden waren und Vogelgesang aus den umliegenden Baumkronen zwitscherte.
Jamie beobachtete, wie Gwin sich umsah, als versuche er, sich zu orientieren. Dann zuckte der Hüne mit den Achseln. „Ich habe keine Ahnung.“
„Gut. Vielleicht wäre es nicht schlecht, wenn du mir erst mal sagst, wonach wir überhaupt Ausschau halten, oder ist der Ausgang des Tores auch mit so einem Steingrab gekennzeichnet?“
„Genauso ist es“, nickte Gwin, „Hier in der Nähe soll vor Kurzem ein neues Steingrab gefunden worden sein, es stand in einer Lokalzeitung.“ Sie schlugen sich durch den Wald, doch sie konnten weit und breit nichts von einem Steingrab erkennen. Jamie hechtete hinter Gwin her, der mit seinen langen Beinen mit einem Schritt so viel Raum gewann wie Jamie mit drei.
„Ich weiß nicht, ob es so viel bringt, hier planlos durch die Gegend zu laufen“, sagte Jamie schließlich erschöpft.
„Wir sind nicht planlos.“
„Aber du sagtest doch, du hättest keine Ahnung….“
„…Stimmt“, entgegnete Gwin geschäftig.
„Dann sag auch nicht, wir seien nicht planlos.“
Jamie fuchtelte aufgebracht mit den Armen. "Ich jedenfalls weiß mit Sicherheit nicht, wo es lang geht!"
Gwin blieb so abrupt stehen, dass Jamie gegen sein Rücken prallte und einige Meter zurücktaumelte.
„Da irrst du dich“, sagte der Riese und lief weiter. Jamie hob vor Verzweiflung die Hände, und murmelte unschöne Worte gen Himmel. Die Art und Weise, wie Gwin sich wieder geheimnisvoll ausdrückte, ließ ihn noch wahnsinnig werden.
„Wenn ich mich nicht täusche“, sagte Gwin, ohne zu bemerken, dass Jamie hinter ihm erzürnte Gesten in seine Richtung machte, „verspürst du etwas wie ein Ziehen in dir, richtig?“ Jamie stockte in seiner obszönen Geste. Gwin hatte Recht. Ein seltsames Gefühl zog seine Brust entzwei.
„Ich spüre, wo das Tor ist?“, fragte er ungläubig und tastete über seine Brust. „So wie ein menschliches GPS-System?“
„Entschuldigst du dich jetzt für das Theater, dass du hinter mir abgezogen hast. Ich bin nicht dumm, weißt du?“, fragte Gwin belustigt, und Jamie grinste beschämt.
„Ja, ja, sorry. Aber was ist das für ein Gefühl?“
„Es ist dein Herz. Es zeigt dir den Weg.“
„Das klingt wie aus einem schlechten Liebesfilm.“
„Also genau das Richtige für dich“, konterte Gwin trocken, „deine Verbundenheit mit dem anderen Auserwählten lässt dich spüren, wo er ist: Gleich hinter dem Tor. Also verrate mir, wo würdest du langgehen?“ Jamie versuchte, das Ziehen zu deuten, doch jetzt, wo er bewusst daran dachte, war es schwerer als angenommen.
„Da lang“, sagte er schließlich und deutete nach rechts. Gwin folgte seinem Finger, dann entschied er: „Also gut!“, und stapfte wieder los. „Du sagst Bescheid, wenn wir die Richtung ändern müssen.“
Jamie folgte Gwin durch den Wald. Der Regen, der das Land in den letzten Wochen heimgesucht hatte wie ein ungeliebter Verwandter, war einem strahlend blauen Himmel gewichen, der nur vereinzelt von kleinen Wolken betupft war.
Die Gegend sah fast identisch aus wie die, die sie am Morgen verlassen hatten, es war schwer, die Orientierung zu behalten, und doch wusste Jamie genau, wohin er gehen musste. Die Wanderung dauerte eine ganze Weile und die Gegend wurde immer zivilisationsferner. Urplötzlich blieb Gwin stehen.
„Ahja“, sagte er zufrieden und blickte umher, als sehe er etwas, das Jamie nicht sah, „es liegt Magie in der Luft. Es kann nicht mehr weit sein.“
„Magie?“, fragte Jamie alarmiert und dachte an die Drago-Soldaten.
„Ja, aber keine schwarze“, beruhigte ihn Gwin und fuhr mit der Hand durch die Luft, „absolut reine Magie. Es ist die Aura des Schutzbannes.“
„Bitte was?“, fragte Jamie verständnislos.
„Nun, auch das gehört zur besonderen Magie der Tore. Wer ein Tor ausfindig macht, markiert es mit seinem persönlichen Zauber. Dieser Zauber kreiert dann in der Zieldimension einen Schutzbann um das Steingrab. Dadurch ist es anderen unmöglich, in die Nähe des Tores zu kommen“, erklärte Gwin und tastete in der Luft umher, als greife er nach etwas Unsichtbarem. „Für uns gilt das aber nicht, weil du das Ziel des Auserwählten bist. Du und ich sind Teil seines Schutzes. Die Drago-Soldaten hingegen können diesen Schutzzauber nicht durchdringen.“
„Dann befinden wir uns jetzt in einem geschützten Bereich? Wie eine Sperrzone!“ folgerte Jamie.
"Und was noch viel besser ist“, ergänzte Gwin und hob die Hand, „hier drinnen können die Soldaten keine Magie orten.“ Ein Kleeblatt löste sich vom Boden und schwebte in Gwins Hand, der es umsichtig am Stiel drehte. „Vorzüglich!“ Jamie sah Gwin mürrisch an, denn er wollte nicht von Blumen reden.
„Wenn du diese Magie spüren kannst, die von dem Bann ausgeht“, fragte er argwöhnisch, „müssten die Soldaten das doch auch können, oder? Schließlich können sie Magie orten.“ Aber Gwin schüttelte den Kopf, ohne das Kleeblatt dabei aus den Augen zu lassen.
„Nein“, sagte er abwesend, „nicht diese Art von Magie, Jamie. Nur psychische - also Exercir - und physische Moverir-Magie kann von den Soldaten wahrgenommen werden. Ich erkläre dir das später genauer“, beschwichtige Gwin Jamies rätselnden Gesichtsausdruck, „die dritte Art sind die Defendir-Zauber, Verteidigungszauber, also die Zauber, die unserem Schutz dienen. Für sie sind die Soldaten blind, während magisch begabte Menschen sie wahrnehmen können, wenn sie es gelernt haben. Deswegen war es auch ungefährlich, die Bäume um die Hütte herum sprießen zu lassen. Sie dienten deinem Schutz und waren somit für die Soldaten nicht zu orten.“ Wieder kam sich Jamie ziemlich blöd vor. Es war eine Schande, dass er so wenig über solche Dinge wusste.
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