„Aber was war dann mit dem Feuer, das du am ersten Abend entzündet hast?“
„Oh, ein so schwacher Zauber kann nur in einem sehr kleinen Umkreis wahrgenommen werden. Und wir hatten alle Drago-Soldaten in der Umgebung bereits vorher...beseitigt. Keine Gefahr also.“ Der Hüne ließ die Blume ins Gras segeln und ging weiter. Jamie verzog missmutig das Gesicht. Die Erkenntnis seiner Unkenntnis bereitete ihm schlechte Laune.
Sie kamen in ein weiteres, kleines Waldstück. Bis hierhin hatte Jamie sich von dem Gefühl in seiner Brust problemlos leiten lassen, doch plötzlich war Schluss damit. Das Ziehen war verschwunden.
„Ich fühle nichts mehr“, verkündete er Gwin verständnislos, der die Brauen hochzog, „das Gefühl....es ist weg!“
Gwin sah sich um. Dann breitete sich auf seinem Gesicht ein Lächeln aus, das wie das eines Kindes aussah. „Du fühlst nur, bis du sehen kannst. Und jetzt“, er deutete hinter sich, „jetzt siehst du!“
Zwischen den Bäumen stand, hoheitlich und massiv, ein etwa vier Meter hohes weißes Steingrab. Zwei große Steinbrocken ragten gen Himmel, und quer darüber lag ein unnatürlich weißer Stein und glänzte in den Sonnenstrahlen, die durch die Baumkronen fielen. Sie hatten das Tor gefunden.
Simlon stieg zügig die Scalari Sritnuma hinauf zur Sternwarte. Kurz zuvor war Rhumpten in seine Kammer geplatzt und hatte ihm mitgeteilt, dass der Weise ihn dringend sehen müsse. Auf seine Fragen hatte der Zentaur geschwiegen und ihn nur eilig durch das Schloss zur Sternentreppe gebracht. Besorgt fragte sich Simlon, was vor sich ging. So spät war er noch nie von Jomera einberufen worden, und Rhumptens Dringlichkeit ließ ihn nichts Gutes ahnen.
Der Weise stand am Teleskop, doch er beobachtete den Sternenhimmel nicht durch das Fernrohr, sondern spähte einfach so durch die Glaskuppel. Als er den Blick senkte, las Simlon in seinem hageren Gesicht, dass er besorgt war.
„Meister, was…?“
„Es gibt alarmierende Neuigkeiten. Die Krieger des Fürsten sind auf dem Weg zur Burg, und sie planen einen Angriff. Uns bleibt nicht viel Zeit“, sagte er dringlich, auch wenn es keineswegs panisch, geschweige denn überrascht klang. „Deine Abreise steht kurz bevor.“ Simlon öffnete überrascht den Mund. So plötzlich? Er hatte gedacht, mehr Zeit zu haben, viel mehr Zeit, er war doch noch längst nicht bereit.
„Aber Meister! Meine Ausbildung ist noch nicht beendet“, protestierte er mit beinah flehender Stimme, obwohl er wusste, dass es nicht Jomeras freie Entscheidung war, ihn gehen zu lassen.
„Das spielt jetzt keine Rolle. Rhumpten mobilisiert derzeit die Geister. Sie werden die Burg verteidigen und uns die nötige Zeit verschaffen.“
„ Aber wenn sie noch einmal sterben, dann…“ Er wagte es nicht, den Satz zu beenden.
„Sie kennen das Risiko“, war Jomeras schlichte Antwort. Dann atmete er tief durch, und es schien, als würde er die Zeit dadurch lähmen, denn plötzlich wirkte er wieder gefasst und federführend, wie Simlon ihn kannte. Er bot ihm den Schemel vor sich an und setzte sich auf einen weiteren ihm gegenüber. „Hör zu, Simlon. Es gibt noch einige Sachen, die du wissen musst. Wenn du später durch das Tor gehst, wirst du merken, dass nichts wichtiger ist, als dein Glaube an dich selbst. Sei dir der Dinge bewusst, die ich dich gelehrt habe, dann wird alles gut gehen. Du hast die Fähigkeiten, die es benötigt, um die Dimensionen zu wechseln. Vertraue dir selbst. Und ganz Nirada glaubt an dich.“
„Aber was passiert, wenn ich es nicht schaffe?“, fragte Simlon dumpf, dessen Magen sich bei dem Gedanken an das Bevorstehende noch einmal umdrehte.
„Du würdest es vermutlich nicht überleben.“ Die Ehrlichkeit dieser Worte war schlimmer, als wenn Jomera ihn angelogen hätte. „Aber heute Nacht zählt das nicht. Was hingegen zählt ist, dass die Hoffnung der Menschen in Nirada von dir abhängt. Vergiss nie, welche Verantwortung du hast!“ Simlon fand nicht, dass dies eine gute Art der Beruhigung für sein Nervensystems war, doch er spürte, dass es Jomera nicht mehr darum ging, ihm ein gutes Gefühl zu vermitteln, sondern ihn auf die nackte Realität vorzubereiten.
„Ich werde es nicht vergessen!“
„Gut“, nickte Jomera und lächelte nun sanft, „wenn du es in die andere Dimension schaffst, wird der zweite Auserwählte dich empfangen. Bei ihm wird einer meiner Männer sein, und Simlon, egal was du über ihn erfahren magst“, –er legte eine kleine, nachdrückliche Pause ein- „du wirst auf ihn hören und seinem Wort folgen!“
„Jaah“, sagte Simlon verwirrt. Was sollte er für einen Grund haben, dies nicht zu tun?
„Gut“, wiederholte Jomera, und dieses Mal griff er zu einem Stoffsäckchen, das neben ihm auf dem Boden lag. „Darin befinden sich zweihundert Za. Nur für alle Fälle.“ Er warf Simlon den Beutel zu, der ihn ungläubig öffnete. So viele von den glänzend-runden, handtellergroßen Münzen hatte er noch nie auf einem Haufen gesehen.
„Und schließlich“, fuhr der Weise fort und holte ein weiteres, deutlich kleineres Säcklein hervor. Seine Hand verschwand in dem dünnen Stoff, und als sie wieder hervorkam, hielt er ein schlichtes Amulett in den langen Fingern. Es war ein einfacher, flacher und ovaler Stein, der an einem alten braunen Lederband hing, von dem sich bereits die Haut abschälte. Obwohl es so verwahrlost aussah, wirkte es wertvoll, beinahe so, als sei es das Versteck für eine nicht greifbare Macht.
Stumm nahm Simlon das Amulett entgegen und starrte es bewundernd an. Er erkannte, dass auf dem Stein etwas eingraviert war: Ein vogelartiges Wesen, das jedoch zu klein war, um seine Spezies zu bestimmen, und daneben ein Stern, der, wie er erschrocken feststellte, genauso aussah, wie der an der Mauer, die Rhumpten ihm gezeigt hatte.
„Was ist das?“, flüsterte er.
„Ich wünsche dir, dass du es irgendwann erfährst. Von ganzem Herzen!“ Der Weise lächelte gütig. Simlon wusste, dass es sich nicht lohnen würde, nachzufragen, deshalb drückte er es kurz ganz fest an sich und band es sich dann um den Hals.
„Sehr schön“, sagte Jomera mit glänzenden Augen, „wir werden uns heute auf eine unabsehbar lange Zeit trennen. Sei vorsichtig, wen du in deine Nähe lässt. Manchmal ist es schwer zu erkennen, wer dir Böses will, und deine Mission ist zu bedeutend, als dass du es auf die harte Weise herausfinden solltest. Und Simlon...“, er klang nun sehr ernst und schließlich kehrte der kriegerische Ausdruck zurück, der Simlon das Fürchten gelehrt hatte, „setzte dein Leben nie unnötig aufs Spiel, egal aus welchen Gründen. Dein Überleben zählt.“ Simlon zögerte. So ein Versprechen konnte er nicht so ohne weiteres ablegen, schließlich fand er nicht, dass sein Leben mehr wert war, als das eines anderen. Die beiden starrten sich in einem Moment ewiger Stille an.
Dann erzitterte die Burg.
Und noch einmal.
Er brauchte nicht Jomeras Worte, um zu verstehen, was geschah.
„Die Schutzbanne werden angegriffen. Die Burg ist kein sicherer Ort mehr. Geh jetzt, Simlon.“ Die beiden erhoben sich. „Weiche nicht von Rhumptens Seite, egal was passiert. Er wird dich zum Tor führen, falls ich verhindert sein sollte.“ Erneut sahen sich die beiden an, dann sagte der Weise: „Viel Erfolg, Mringard. Du kannst es schaffen, ich weiß es.“ Für Simlon kam dieses Kompliment unerwartet, und zum ersten Mal seit Wochen fühlte er sich wirklich gut. Seltsam, dass dieses Gefühl ausgerechnet jetzt aufkam, da er so nervös war.
„Danke für alles“, sagte er beschämt.
„Dank mir erst, wenn getan ist, was getan werden muss. Und nun, beeil dich!“
Die Stufen der Scalari Sritnuma zitterten unter Simlons Gewicht, als er sie hinabstürmte. Er erreichte den Fuß der Treppe, wo Rhumpten bereits auf ihn wartete und wortlos mit ihm den Korridor entlang spurtete. Die Schritte des Geistes gaben keinen Hall wieder.
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