Etwas ratlos stand ich herum und überlegte, ob ich klingeln sollte, als ich ihre Stimme hörte. Sie kam aus der Wirtshaustür nebenan und stellte sachlich fest: „Du willst sicher zu Heini. Doch komm’ erstmal rin in die gute Stube. Ich öffne erst am Abend, aber für seine Kollegen mach’ ich gern eine Ausnahme.“ Das leere Lokal roch überraschend gut, nicht wie erwartet nach abgestandenem Bier oder kaltem Zigarettenrauch. Das sagte ich der Wirtin, es freute sie. „Lüften ist alles“, erklärte sie sachlich, „und ein bisschen Raumduft. Ein Pils wie immer?“
Wie immer, ein alter Wirtstrick, so oft war ich ja noch nicht in ihrer Kneipe gewesen, doch ich antwortete: „Wie immer, aber nur eins, muss noch fahren.“ Dabei deutete ich auf die Luxuslimousine mit dem Stern am Kühler, was Charlo ignorierte.
Während sie sich ans Zapfen machte, fragte sie mich: „Hast du gestern die Sendung mit Heini gesehen?“ Ich nickte, schwieg aber. Sie fragte weiter: „Und, wie fandest du ihn?“ – „Na ja“, zögerte ich mit der Antwort, „es war ganz amüsant, er hat sich gut geschlagen. Meine Freundin war ganz begeistert. Aber, ehrlich, wenn ich tagtäglich mit einem Menschen zusammensein müsste, der ständig reimt, also in jeder Situation, das fänd’ ich ganz schön nervig. Ich wüsste nicht, wie lange ich das aushalten könnte.“
Sie schaute mich aus ausdrucksstarken, dunklen Augen an, strich sich eine kleine Locke ihrer roten Haare aus der Schläfe und nickte: „Darauf kannst du einen lassen. Vielleicht sind Heini und ich nur deshalb noch zusammen, weil wir zwar im selben Haus auf derselben Etage wohnen, aber unsere Wohnungen durch den Flur getrennt sind. Nee, der Heini, so gern ich ihn ja hab’, der ist schon was Besonderes. Hier in der Adlerklause hat er ja seinen Fanclub, ich nenn’ den immer den ‚Club der Proll-Poeten‘ …“
Ich prustete laut los, das freute Frau Wirtin, und sie zeigte hinter ihren wieder knallrot geschminkten Lippen etwas schiefe, aber strahlend weiße Zähne, „… also die Proll-Poeten, alles Stammgäste mit Niveau, ein Arzt, zwei Studienräte, eine kesse Pfarrerin und der Direktor der Volkshochschule, alles Leute mit Abitur, mindestens, die waren gestern Abend vollzählig versammelt und kriegten sich kaum noch ein vor Spaß. Besonders der Reim von ‚tender‘ auf ‚Ständer‘, der hat ihnen gefallen. Aber, wenn einer immer nur reimt, also auch im Bett, dann kann man schon mal die Lust verlieren.“
Bei diesem Bekenntnis erwachte der Reporter-Instinkt in mir. Ich versuchte, meine Frage harmlos klingen zu lassen: „Ach, also auch beim Sex reimt er?“ Ich trank einen Schluck Pils, sie schaute mich nachsichtig lächelnd an, dann brach es aus ihr heraus: „Dir kann ich’s ja sagen, bist ja sein Freund und auch nicht prüde, glaub’ ich. Wenn Heini mir zu Anfang unserer Beziehung, ist schon einige Jahre her, mal geflüstert hat: ‚Deine Titten sind wahre Sahneschnitten‘ oder: ‚An deinem Busen möcht‘ ich schmusen‘, oder: ‚deine Muschi schmeckt besser als jedes Sushi‘, fand ich das ja ganz lustig. Aber wenn er sagt ‚Charlo, mach die Beine breit, jetzt kommt der Herr der Herrlichkeit‘, dann geht mir das ziemlich aufn Keks. Dabei bin ich als Wirtin einiges gewöhnt. Inzwischen bitte ich Heini immer häufiger, wenn wir allein sind bei ihm oder bei mir, einfach den Mund zu halten. Was er auch brav tut, wenn auch leider nur kurz.“
Schwer fasziniert und zugleich leicht angewidert hörte ich ihr zu, unterbrach sie aber nicht bei ihrem Geständnis: „Dabei lieb’ ich ihn. Er ist nämlich ein verdammt toller Liebhaber, der beste, den ich je hatte. Und ich hatte einige, das kannst du mir glauben. Und Mumm hat er auch. Kürzlich, er kam gerade aus der Klapse, wo er wegen der Rumreimerei von eurem Chefredakteur hingeschickt worden war, machten hier zwei Skins Stunk. Einem hat er beim Rausschmeißen das Nasenbein zertrümmert und dessen Kumpel so gewaltig in den Arsch getreten, dass er jaulend abgehauen ist. Tja, und jetzt ist der Heini berühmt. Was willst du eigentlich von ihm? Er hat wirklich einen ziemlichen Kater. Als ich ihn heute Morgen durch die Wohnungstür laut schnarchen hörte, da war mir sofort klar, dass mit ihm heute nichts anzufangen ist. Ich habe ihn dann kurz geweckt. Er hat mir gesagt, dass er nach der Aufzeichnung der Talkshow mit der Moderatorin und dem Produzenten, diesem Thilo, den du ja auch kennst, total versackt ist. Ich hoffe jedenfalls, dass der Thilo dabei war. Denn diese Karolin entspricht ziemlich genau Heinis Beuteschema.“
Ich fragte Charlo: „Hast du die E-Mail an den Chef geschrieben?“ Sie bejahte stolz: „Sogar ganz allein gereimt.“ Ich riet ihr, auf Nachfragen – von wem auch immer – diese Version beizubehalten.
Während wir plauderten, bemerkte ich, wie mir Charlos lässig-erotische Ausstrahlung von Wort zu Wort besser gefiel, obwohl sie sicher zehn Jahre älter ist als ich, und sie – verglichen mit meiner Super-Eva – natürlich nur zweite Wahl wäre, wenn denn was wäre. Ich teilte ihr sachlich mit, ich hätte für Heini die auf seine Grünen-Schelte bezogenen Leserbriefe ausgedruckt, sie möge sie ihm doch, wenn er wieder vernehmungsfähig sei, aushändigen. Die meisten Zuschriften seien positiv, was zu seiner Genesung beitragen könne.
Sie bot sich an, ihren Geliebten anzurufen und ihn zu fragen, ob es ihm recht sei, wenn ich ihm die Briefe selbst übergebe. Einfühlsam sagte sie mir, ich solle nicht böse sein, wenn er das nicht wolle, denn er hüte seine Wohnung wie eine Festung. Nach ihrer Kenntnis habe Heini noch nie einen Kollegen zu sich eingeladen. Nur sie, als seine Quasi-Frau, habe uneingeschränkten Zutritt zu seinem Reich und seine Tochter.
Jetzt war ich bass erstaunt: „Heini Weini hat eine Tochter? Das hab’ ich ja gar nicht gewusst, hat er nie von erzählt. Ich dachte bisher immer, er sei ewiger Junggeselle.“
„Psst!“, flüsterte Charlo und legte den rechten Zeigefinger vor die Lippen, „verrat ihm nicht, dass ich dir das gesagt habe. Ich nahm an, wenigstens du wüsstest es. Tatsache ist: Heini war nie verheiratet. Seine Tochter, die dürfte jetzt Ende zwanzig, Anfang dreißig sein, war das Ergebnis eines One-Night-Stands mit einer verheirateten Frau, als Heini noch bei den Fallschirmjägern war. Erst nach dem Tod ihres Gatten, ein Multimillionär, hat Heini erfahren, dass er seit Jahren Papa ist. Da war seine Tochter aber schon erwachsen. Die Ähnlichkeit zwischen den beiden ist verblüffend, besonders das markante Kinn mit dem Grübchen. Seit Heini weiß, dass er der Vater von Dorothée ist, so heißt sie nämlich, den Nachnamen habe ich vergessen, irgendwas mit ‚von‘, also seitdem haben die beiden ein ganz tolles Verhältnis zueinander. Zweimal im Jahr kommt sie rüber aus den USA, wo sie lebt, und bleibt dann immer für ein paar Tage. Sie ist vom Wesen her wie Heini, gar nicht hochnäsig oder eingebildet, obwohl sie Literaturprofessorin an so einer Eliteuniversität ist, in Kalifornien, glaub’ ich.“
Ich war verblüfft. Heute hatte ich mehr über Heinrich Weinrich erfahren als all die Jahre zuvor, in denen wir als Kollegen zusammen gearbeitet hatten. Ganz tröstlich, dass es in den Zeiten von Facebook, Twitter & Co noch Menschen wie Heini gibt, die ihre Geheimnisse hüten können und sie nicht breittreten.
Während ich den letzten Schluck Pils in mich hineinschüttete, telefonierte Charlo mit ihrem Heini. Noch während sie miteinander sprachen, hob sie den Daumen ihrer rechten Hand und lächelte mich an. Sie legte den Hörer auf und formulierte filmreif: „Der Herr lässt bitten. Dritte Etage, kein Fahrstuhl. Nimm zwei Flaschen Weizenbier mit. Das beste Mittel gegen Kater. Vertrau einer altgedienten Wirtin: Weizenbier verscheucht das Katertier.“
Ich tat wie geheißen. Während ich langsam die Treppen zur Wohnung hinaufstieg, unter dem linken Arm die Ausdrucke der Leserbriefe, in der rechten Hand einen Plastikbeutel mit zwei Flaschen Weizenbier, wurde mir etwas beklommen. Ich war mir nicht sicher, ob ich der Ehre würdig wäre, Heinis feste Burg betreten zu dürfen.
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