Die Texas Fans schrien anschließend »OU sucks!«, darauf antwortete OU entweder »…and Texas swallows!« oder etwas einfallsloser »Texas sucks!« Das war zwar alles ziemlich kindisch, machte aber mit ein paar Bierchen im Kopf wirklich Spaß. Am nächsten Tag schließlich das gleiche Bild: Jeder schrie so gut er konnte. Glücklicherweise war das Bier ziemlich schwach, denn ein Football Spiel dauert über vier Stunden und mit deutschem Bier und bei Temperaturen von 33 Grad Celsius wären wir sicher ins Koma gefallen. Doch nicht nur durch Schreierei versuchte man den Gegner zu provozieren. Extra für dieses Event hatten sich die T-Shirt-Verkäufer allerhand Sprüche ausgedacht, um die Klamotten an die Frau beziehungsweise den Mann zu bringen. Sebastian, der Kolumbianer, hatte sicherlich das provozierendste T-Shirt an: »Beat Texas«. In Dallas, Texas, dem Staat der »Revolverhelden« dieses anzuziehen, war schon wirklich mutig. Der Schriftzug »Tuck Fexas« auf einem T-Shirt in Texas zu tragen, war sicherlich auch sehr couragiert. Dagegen waren die Sprüche der Texaner mit »O – What?« oder »Don´t mess with Texas« harmlos. Auch die Zeichensprache kam an diesem Tage nicht zu kurz. Da das Team aus Texas als »Longhorns« stellvertretend für die Rinder stand, die in dem Bundesstaat überall grasen, machten die Texaner folgendes Handzeichen: kleiner Finger und Zeigefinger nach oben, die anderen Finger zu Faust geballt – dies war das Zeichen für Texas. OU Fans machten dieses Zeichen auch, mit dem kleinen Unterschied, dass das »Longhorn« nach unten zeigte. Am Ende hatte OU gewonnen, die Party ging aber trotzdem bei den Anhängern beider Teams weiter. Tatsächlich wurde ordnungsgerecht im »Law-and-Order-Staat« Texas gefeiert. Bierflaschen und Dosen auf der Straße waren tabu. Jeder, der ein Bierchen kaufen wollte, musste seinen Personalausweis vorzeigen, damit das Bier ausschließlich an Personen, die über 21 Jahre alt sind, ausgeschenkt wurde. Dies war halt Amerika. Es wurde wirklich verklemmt gefeiert. Da kommt doch Heimweh auf, wenn ich bei solchen Events an die Meenzer Fastnacht denke.
Nach der vielen Feierei, hieß es Abschied nehmen von Alexander und seinen Kommilitonen. Vor mir stand nun eine 18-Stunden-Busfahrt mit dem Greyhound nach Colorado. Die Menschen, die zusammengepfercht in diesen metallenen Röhren durch das Land der unbegrenzten Möglichkeiten reisen, bildeten mit der Zeit eine Art Großfamilie. Der Anführer war immer der Fahrer, der gleichzeitig Mädchen für alles war: Ticketkontrolleur, »Klopapier-Auffüller«, »VJ« wenn es Videos gab, Gepäckträger und Einmann-Unterhalter. Ihm huldigten die Passagiere, da er bestimmte, wann es weiterging und wo gehalten wurde. Leider stoppte der Fahrer beziehungsweise die Fahrerin allzu oft bei McDonald´s. Alle Passagiere gaben acht, dass niemand zurückgelassen wurde. Mein Handgepäck konnte ich getrost im Bus zurücklassen, ohne dass es geklaut wurde. Im Bus herrschte noch die heile Welt Amerikas vor 09/11.
Die Fahrt nach Colorado führte durch die US-Bundesstaaten Texas und New Mexico. Texas wird als »Lone Star State« bezeichnet, da sich auf der Staatsflagge lediglich einem Stern befindet. Texas wurde 1845 von den USA annektiert, nachdem der Staat sich einige Jahre vorher von Mexiko für unabhängig erklärt hatte, da Mexiko die Sklaverei hatte abschaffen wollen. 1846 kam es unweigerlich zum Krieg zwischen den USA und Mexiko. Den Krieg entschieden die USA für sich, und Mexiko musste die Gebiete der heutigen Staaten Kalifornien, Utah, Colorado und New Mexico an die USA abtreten. Für zehn Millionen US-Dollar kauften die USA schließlich den Rest des heutigen New Mexiko und Arizona von Mexiko im Jahre 1853 ab. New Mexiko durchfuhr ich nur im äußersten Nordosten für einige Stunden, ehe ich nach Colorado gelangte. Colorado wird auch als »Centennial State« bezeichnet, da dieser Staat im Jahre 1876 den Vereinigten Staaten beitrat – exakt 100 Jahre nach der selbsterklärten Unabhängigkeit. Zunächst fuhr ich in die »Mile High City« Denver, die exakt 1.600 Meter hoch gelegen ist, und anschließend weiter nach Boulder. Auf dieser Fahrt zeigte sich wieder einmal die Freundlichkeit der Amerikaner. Da ich 3,50 US-Dollar passend zu zahlen hatte, aber nur einen fünf US-Dollar Schein besaß, nahm mich der Fahrer einfach kostenlos mit.
In Boulder angekommen, staunte ich nicht schlecht: kein McDonald´s, kein Burger King, kein Wendy´s, kein Taco Bell und kein »Schrottfutter-Supermarkt«. Dafür nur Ökoläden mit Vollwertkost und Essen aus biologischem Anbau. Die Stadt liegt direkt am Fuß der Rocky Mountains und ist für seine alternativ lebende und denkende Bevölkerung bekannt. Als ich einem Bewohner von Boulder erzählte, dass ich es bewundernswert fände, dass Fans von verschiedenen Football-Teams gemeinsam friedlich feiern können und dass dies in Europa bei Fußballspielen manches Mal gänzlich anders sei, meinte er trocken, dass Amerika die Aggressivität und Kampfbereitschaft in der Politik rauslasse, Europäer wohl eher beim Sport.
Ich genoss die Herbsttage in den Rocky Mountains mit einer Wanderung durch das kunterbunte Colorado der Rocky Mountains: leuchtend gelbes Birkenlaub, grüne Tannen, rot gefärbte Ahorn-Bäume, dunkelblauer Himmel, rötlich-brauner Fels und weißer Sand nach Osten hin in Richtung der großen Ebenen im mittleren Westen der USA. In Boulder fand ich auch meinen Traumjob: »Paperboy«. Der Paperboy fuhr morgens mit verpackten Zeitungen durch die Stadt und warf die Zeitung von der Straße aus in Richtung Haustür. Ob er das Ziel traf oder nicht war zweitrangig. So flogen überall Zeitungen in den Büschen und auf dem Rasen der Vorgärten herum. Aber der Paperboy hatte seine Arbeit getan.
Von Boulder fuhr ich durch den Staat Wyoming weiter in die Olympiastadt Salt Lake City. Wyoming hat zwei Spitznamen. Der erste lautet »Cowboy State«. Diesen Namen hat sich Wyoming wirklich verdient, sieht es dort doch tatsächlich so aus wie in jedem Western. Trockensavanne, einsame Eisenbahnstrecken, Schneeberge im Hintergrund, pfeifender Wind und schlecht rasierte Typen. Den Namen »Equality State«{53} verdiente sich Wyoming, als es 1869 als erster Bundesstaat und vielleicht auch als erste Region weltweit den Frauen über 21 Jahre das Wahlrecht gab. Dies geschah allerdings nicht aus emanzipatorischen Gründen, sondern um Frauen in den Cowboystaat zu locken. Der Überschuss an Männern betrug damals sechs zu eins.
Nachdem ich den ganzen Tag durch die Prärie getuckert war, kam ich abends in Utahs Hauptstadt Salt Lake City an. Der Name Utah geht auf die Ute-Bewohner zurück, die hier vor etwa 8.000 Jahren siedelten. Im 19. Jh. wurde Utah zur Heimat der Mormonen, einer christlichen Religionsgemeinschaft. Die Mormonen flohen vom heutigen Illinois nach Westen, da sie wegen ihrer Religion verfolgt wurden. Im Gebiet von Utah fanden sie eine neue Heimat. Nach sechs Versuchen, den USA beizutreten, wurde Utah beim siebten Versuch 1896 der 45. Staat der USA. Vor der Aufnahme in die Staatengemeinschaft musste die bei den Mormonen praktizierte Polygamie offiziell abgeschafft werden. Salt Lake City machte auf mich wie zuvor St. Louis einen verschlafenen Eindruck, der sich in mir durch die fehlende Straßenbeleuchtung noch verfestigte. Allerdings konnte ich im Dunkel von Salt Lake dadurch ungestört und seelenruhig ein Dosenbier ohne Verpackung auf der Straße genießen.
Von Salt Lake City reiste ich durch die Staaten Utah, Idaho, Montana und Washington nach Vancouver in British Columbia. Der »Gem State«{54} Idaho ist wie Utah ein Wüstenstaat mit herrlichen Landschaften. Der Sonnenuntergang in dieser Region sah aus wie ein Bild des Surrealisten René Margritte: hell leuchtende Wolkenformationen vor schwarzer riesenhafter Bergkulisse. In Montana liegt die Quelle des Flusses Missouri und der Staat wird auch als »Big Sky Country«{55} bezeichnet. Leider fuhr ich fast ausnahmslos durch das nächtliche Montana und konnte lediglich den hell leuchtenden Vollmond bewundern. Am Ende dieser langen Busfahrt angelangt, musste leider feststellen, dass mein Rucksack nicht so weit gekommen war. Ob er in Butte, Montana, in Spokane,Washington, in Portland, Oregon, oder in Vancouver, Washington, lag? Ich wusste es nicht. Greyhound kannte dieses Problem bereits zur Genüge und versprach mir, dass er bald auftauchen würde. Wann dies geschehen würde? Das wusste ich ebenfalls nicht.
Читать дальше