Die Gestalt erreichte das Heck des Dienstwagens und setzte zum Sprung an - zu einem tödlichen Angriff.
Es ertönte kein Schuss.
Keine Reaktion der Waffe.
Keine Chance zu überleben.
Warum funktionierte dieses verdammte Ding nicht!? Tom hatte das Schreien von Valentina während seiner Versuche, sie und sich selbst zu verteidigen, vollkommen ausgeblendet. Doch jetzt drang ihr erbittertes Flehen nach Leben und Sicherheit - gebündelt in einem einzigen, langen Schrei - wieder an seine Ohren. Binnen eines Augenblicks glaubte er die Schmerzen des Sterbens vorauszuahnen - und stellte sich drauf ein.
Die P226 war eine weit verbreitete Standardwaffe der deutschen Polizei. Die Double-Action-Pistole war mit einer automatischen Schlagbolzensicherung ausgestattet, welche sich am Griffstück befand. Sie besaß ein Zickzackmagazin mit fünfzehn Patronen des Kalibers 9mm. Da der Polizist keinesfalls so oft geschossen hatte, musste noch weitere Munition vorrätig sein. Doch kein Projektil war von Nutzen, wenn der Schlagbolzen erst gar nicht aufs Zündhütchen traf.
Ein ohrenbetäubendes Krachen erschütterte die Umgebung. Martin hatte den Mazda gestartet und mit Vollgas auf das Wesen zugesteuert. In dem Moment, als es am Heck des Polizeiwagens war, stieß er mit dem Monstrum zusammen. Kurz bevor der Airbag auslöste konnte Martin noch erkennen, wie die Beine des Wesens zwischen Kofferraum und Motorhaube zerquetscht wurden. Dann schlug er hart mit seinem Gesicht gegen den Stoff der plötzlich hervorschnellenden Schutzvorrichtung, nachdem seine Hände vom Lenkrad geschleudert wurden. Er spürte wie sein Nasenbein in zwei Teile brach. Sofort schossen ihm Tränen in die Augen. Auf seiner Zunge schmeckte der Mann eine klebrige Flüssigkeit. Süßlich. Metallisch. Wie Kupfer. Da Martin keine Zeit mehr hatte sich anzuschnallen, wurde sein Oberkörper mit einem heftigen Ruck gegen den Airbag katapultiert. Die Wucht war derart stark, dass sein Mageninhalt bis in die Speiseröhre drang. Knochen brachen in seiner Brust unter stechenden Schmerzen. Er glaubte zu hören, wie sie sich in seinem Körper teilten.
Der Torso des Wesens wurde auf die Motorhaube geschleudert. Kurz vor dessen Aufprall zerbarsten die Scheinwerfer des Autos und absolute Dunkelheit breitete sich wie ein tiefschwarzes Tuch über dem Gelände aus. Ein heftiges Krachen drang an Martins Ohren. Dann folgte das Splittern von Glas. Ein Scherbenhagel winziger Schrapnelle prasselte gegen Kopf und Stirn, bevor etwas den vorderen Teil des Wagendachs eindrückte und erst durch Martins Schädel auf Widerstand stieß. Sofortige Kopfschmerzen und Orientierungslosigkeit setzten ein. Pochende Schmerzen in Kopf und Glieder vertrieben jeden anderen Gedanken.
Dann herrschte Stille.
Die letzten Scherben waren zu Boden gefallen. Das Fahrzeug hatte seinen vollständigen Stillstand erreicht. Der Motor war verstummt. Nicht einmal die Rufe Valentinas drangen durch die Nacht. Sie war vor Schreck wie gelähmt. Nur das leise Säuseln schwachen Windes glitt hörbar durch aufgewirbeltes Laub.
04 - Schmerz
Ein modriger, intensiver Geruch schwängerte die Luft. Noch immer hüllten sich die Anwesenden in Schweigen. Sie mussten das Geschehene erst einmal verarbeiten und realisieren. Ein Tier übernatürlichen Ausmaßes hatte Tom und Valentina als Beute angesehen und wollte sich auf sie stürzen. Doch Martin konnte diese Aktion unterbinden, indem er mit seinem Wagen frontal in die Bestie donnerte.
Jetzt fasste Tom endlich wieder einen klaren Gedanken. >>Martin?!<< Erst war es ein leises Flüstern, dann festigte sich seine Stimme. >>Martin?!<< Jetzt bemerkte Tom, dass er im Eifer des Gefechts Valentinas Hand losgelassen hatte.
>>Valentina, wo bist du?!<< Hektisch tastete er mit der freien Hand in das Dunkel. >>Vale?!<<
Keine Antwort.
Dann berührten seine Finger ihren Kopf. Schnell tastete er sich zu ihren Schultern hinunter.
>>Vale, geht es dir gut?! Bist du verletzt?!<< Obwohl er das Kind nicht sehen konnte, vernahm er instinktiv ihr wortloses Kopfschütteln. Tom fühlte Unbehagen in sich aufsteigen und wollte ihren Zustand genauer prüfen. Er griff in die Hosentasche und holte sein Benzinfeuerzeug heraus. In dem Moment, als sich seine Hand von Valentina löste, verspürte er einen kurzen, klebrigen Widerstand, aufgrund des bereits teilweise geronnenen Blutes aus seiner Wunde.
Valentina gab keinen Ton von sich. Für einen Moment übermannte der Schock Toms Urteilsvermögen und schränkte seine Entscheidungen ein. Dann verdrängte er diese Gedanken aus seinem Kopf und versuchte konzentriert zu bleiben. Nur nicht der Panik ein Heim verleihen, dachte er.
Das metallische Rädchen löste winzige Funken vom Feuerstein. Nicht genügend um den Docht zu entzünden. Ein weiterer Versuch blieb genauso erfolglos. Erst beim dritten Mal entflammte die benzingetränkte Schnur und legte das Gesicht Valentinas aus der Schwärze frei.
>>Ist dir was passiert?!<<
Ihre Gesichtszüge hatten sich verkrampft. Schlieren von Tränen funkelten auf ihrer Wange. Der schockierte Blick war ins Leere gerichtet. Tom war klar, dass er sich um das Mädchen kümmern musste, jedoch gab es eine weitere Person, welche ebenfalls seine Hilfe benötigte.
>>Valentina, bleib hier stehen. Okay!? Beweg dich nicht. Ich gehe nur ein paar Schritte hinüber zu deinem Vater. Du wirst mich die ganze Zeit sehen. Und wenn du mich rufst, bin ich sofort wieder da.<<
Der Blick des verstörten Kindes war noch immer wie versteinert. Doch Thomas musste seinem Bruder helfen. Es ging nicht anders. Allerdings waren es nur wenige Meter bis zum Auto. Wenige Meter, die Valentina jetzt einfach verschmerzen musste. Zügig wandte Tom sich ab und schritt vorsichtig zu den demolierten Fahrzeugen. Im diffusen Schein seines Feuerzeugs zeichneten sich allmählich die Konturen der Karosserien ab. Mit jedem Schritt, den er näher kam, schälten sich die Umrisse mehr und mehr aus der Dunkelheit.
>>Martin?!<< Unsicherheit lag in seiner zittrigen Stimme.
>>Martin!?<< Beim zweiten Mal erklang der Ruf mit mehr Kraft. Dann erkannte er etwas zwischen den beiden Fahrzeugen. Etwas Unheimliches. Etwas, das sein Verstand noch zu keinem klaren Bild formen konnte. Aber es bewegte sich nicht. Weißer Rauch strömte aus einer Öffnung des Motors.
Erneut wandte sich Tom seinem Bruder zu, den er nun auf dem Fahrersitz zu erkennen glaubte. Martin saß regungslos da. Sein Gesicht war tief in den Airbag getaucht. Dann griff Tom nach seiner Schulter und drückte den Oberkörper in den Sitz zurück.
>>Martin, hörst du mich? Bist du noch da?<< Tom stellte das Feuerzeug neben sich auf den Boden, um beide Hände für seinen Bruder frei zu haben. Dann tastete er zu dessen Gesicht und hob seinen Kopf in die Stütze des Sitzes. Dabei verspürte er die schwachen Atemzüge aus seinem Mund. Ein minimales Gefühl von Erleichterung stieg in Tom auf.
>>Hey. Wach auf.<< Thomas drückte mit einer Hand die Wangen seines Bruders ein klein wenig fester und hoffte, dass er den Druck spüren würde. Ungewollt füllten sich seine Augen mit Tränen. Noch vor einer Stunde waren sie im Auto auf dem Weg zu ihren Eltern gewesen, und jetzt sollte das so enden?! Nein. Das konnte es nicht gewesen sein.
Tom drückte noch etwas fester zu und hauchte ihm anschließend eine leichte Ohrfeige auf die Wange. Nichts geschah. Keine Reaktion. Die Zweite war härter. Dann folgte eine Dritte und er holte ein viertes Mal aus...
Martin Kruger erwachte. Einen Spalt breit öffnete er die Augen. Sein Schädel schmerzte. Sofort begann er zu husten und spuckte Blut auf Airbag und Lenkrad. Noch währenddessen verzog er sein Gesicht zu einer schmerzerfüllten Fratze.
>>Gut, du lebst! Wie sehr bist du verletzt?!<<
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