»Ja, mit Absicht«, kicherte der Kleine.
»Das war ein Mordversuch!« sagte der Kommissar.
»Aber du hast doch gesagt, die Waffe ist gesichert!«
Jetzt war der Kommissar ganz sicher, daß seinen Augen nichts geschehen war.
»Ich werde dich ins Wasser schmeißen, du Lump! Das ist dann nur Notwehr!« Und er packte den Kleinen bei der Schulter.
»Nein, nein, bitte nicht! Bitte das nicht! Ich werde das andere auch bestimmt tun! Nur nicht ins Wasser! Du hast es mir heilig versprochen …«
Der Kommissar hatte ihn bei der Schulter gepackt.
»Ach was! Jetzt keine Winseleien mehr! Du hast doch nie die Courage dazu! Ins Wasser …!«
Zwei Schüsse fielen rasch hintereinander. Der Kommissar fühlte, wie der Mann zwischen seinen Fäusten zusammenfiel, er sackte in sich, unaufhaltsam. Einen Augenblick machte Escherich eine Bewegung, als er den Toten über den Stegrand ins Wasser rutschen sah. Seine Hände wollten ihn noch halten.
Und achselzuckend sah der Kommissar zu, wie der schwere Körper ins Wasser klatschte und sofort verschwand.
»Besser so!« sagte er sich und befeuchtete die trockenen Lippen. »Weniger Verdachtsmaterial.«
Einen Augenblick stand er noch, zweifelnd, ob er die auf dem Steg liegende Pistole ins Wasser stoßen sollte oder nicht. Dann ließ er sie liegen. Er ging langsam vom Bootssteg, den Uferhang hinan, nach dem Bahnhof zu.
Der Bahnhof war geschlossen, der letzte Zug abgefahren. Der Kommissar schickte sich gleichmütig an, den weiten Weg nach Berlin unter seine Füße zu nehmen.
Eben fing die Uhr wieder an zu schlagen.
Mitternacht, dachte der Kommissar. Er hat’s geschafft. Mitternacht. Bin neugierig, wie ihm sein Friede gefallen wird, wirklich neugierig. Ob er sich wieder betrogen vorkommt? Aas, kleines, winselndes Aas!
DRITTER TEIL
Das Spiel steht gegen die Quangels
33
Trudel Hergesell
Die Hergesells fuhren mit dem Zuge von Erkner nach Berlin. Jawohl, es gab keine Trudel Baumann mehr, Karls andauernde Liebe hatte gesiegt, sie hatten geheiratet, und jetzt, im Jahre des Unheils 1942, war Trudel im fünften Monat schwanger.
Mit der Heirat hatten die beiden auch ihre Arbeit in der Uniformfabrik aufgegeben – nach dem bedrückenden Erlebnis mit Grigoleit und dem Säugling hatten sie sich dort nie mehr wohl gefühlt. Er arbeitete jetzt bei einer chemischen Fabrik in Erkner, während Trudel als Hausschneiderin ein paar Mark dazuverdiente. Mit leiser Scham dachten sie an die Zeit ihrer illegalen Betätigung zurück. Beide waren sie sich völlig klar darüber, daß sie versagt hatten; beide aber wußten sie jetzt auch, daß sie sich für eine derartige Tätigkeit, die eine völlige Zurückstellung des eigenen Ichs erforderte, nicht eigneten. Jetzt lebten sie nur noch für ihr häusliches Glück und genossen die Vorfreude auf das zu erwartende Kind.
Als sie Berlin verließen und nach Erkner hinauszogen, hatten sie gemeint, dort in völliger Ruhe leben zu können. Wie viele Großstädter hatten sie sich dem sehr irrigen Glauben hingegeben, die Bespitzelung sei nur in Berlin so schlimm, auf dem Lande, in einer kleinen Stadt herrsche noch Anstand. Und wie viele Großstädter hatten sie erfahren müssen, daß gerade das Denunziantentum, das Aushorchen und Bespitzeln, in einer kleinen Stadt noch zehnmal schlimmer war als in der Großstadt. In der Kleinstadt konnte man nie untertauchen in der Masse, jeder war klar übersichtlich, seine persönlichen Verhältnisse wurden rasch bekannt, Gesprächen mit Nachbarn war kaum aus dem Wege zu gehen, und wie solche Gespräche entstellt werden konnten, das hatten sie schon ein paarmal mit Kummer erfahren müssen.
Da sie beide der Partei nicht angehörten, da sie beide sich bei allen Sammlungen nur mit dem geringstmöglichen Betrage beteiligten, da sie beide die Neigung zeigten, ganz allein für sich zu leben, da sie beide lieber lasen, als daß sie in eine Versammlung gingen, da Hergesell mit seinen dunklen, langen, immer verwirrten Haaren und seinen glühenden schwarzen Augen wie ein richtiger Sozialist und Pazifist aussah (nach Ansicht der Pgs), da Trudel einmal gesagt hatte, die Juden könnten einem leidtun – galten sie in kurzer Zeit für politisch verdächtig, und jeder ihrer Schritte wurde überwacht, jedes ihrer Worte überbracht. Hergesells litten unter der Atmosphäre, in der sie in Erkner leben mußten. Aber sie redeten sich ein, daß sie sich nichts daraus machten und daß ihnen nichts passieren könnte, da sie ja gegen diesen Staat nichts taten. »Die Gedanken sind frei«, sagten sie, aber sie hätten wissen sollen, daß in diesem Staat nicht einmal die Gedanken frei waren.
So flüchteten sie immer stärker in ihr Liebesglück. Sie waren wie zwei Liebende, die sich in einer Sturmflut, in den Wogen, im Zusammenbruch der Häuser, zwischen ertrinkendem Vieh, aneinandergeklammert haben und glauben, kraft ihrer Gemeinsamkeit, ihrer Liebe dem allgemeinen Untergang entgehen zu können. Sie hatten noch nicht begriffen, daß es in diesem Kriegs-Deutschland ein privates Leben überhaupt nicht mehr gab. Kein Sichzurückziehen rettete davor, daß jeder Deutsche zur Allgemeinheit der Deutschen gehörte und das deutsche Schicksal miterleiden mußte – so wie ja auch die immer zahlreicheren Bomben wahllos auf Gerechte wie Ungerechte fielen.
Auf dem Alexanderplatz trennten sich die Hergesells. Sie hatte eine Schneiderarbeit in der Kleinen Alexanderstraße abzuliefern, während er einen zum Tausch inserierten Kinderwagen besichtigen wollte. Sie verabredeten, sich um die Mittagsstunde wieder auf dem Bahnhof zu treffen, und jeder ging seinen Weg. Trudel Hergesell, der, nach anfänglichen Beschwerden, jetzt im fünften Monat die Schwangerschaft nur ein nie gekanntes Gefühl von Selbstvertrauen und Glück verliehen hatte, kam rasch in die Kleine Alexanderstraße und trat in das Treppenhaus.
Vor ihr stieg ein Mann die Treppe hinauf. Sie sah ihn nur von hinten, aber sie erkannte ihn sofort an der charakteristischen Kopfhaltung, dem steifen Nacken, an der langen Gestalt, an den hochgezogenen Schultern: es war Otto Quangel, der Vater ihres früheren Verlobten, jener Mann, dem sie einmal das Geheimnis ihrer illegalen Organisation verraten hatte.
Unwillkürlich hielt sie sich zurück. Es war klar, daß Quangel von ihrer Anwesenheit noch nichts gemerkt hatte. Er stieg ohne Hast, aber gleichmäßig schnell die Treppen hoch. Sie folgte ihm mit einer halben Treppe Abstand, immer bereit, sofort stehenzubleiben, sobald Quangel an einer der vielen Türen dieses Bürohauses klingelte.
Aber er klingelte nicht, sondern sie sah, wie er an einem Treppenfenster stehenblieb, eine Karte aus der Tasche zog und sie auf der Fensterbank niederlegte. Als er so tat, begegnete sein Blick dem der Beobachterin. Aber ob Quangel sie nun erkannt hatte oder nicht, war ihm nicht anzumerken, er ging an ihr vorbei, die Treppe hinunter, ohne sie anzusehen.
Kaum war er etwas tiefer, eilte sie zu dem Fenster und nahm die Karte in ihre Hand. Sie las nur die ersten Worte: »Habt ihr noch immer nicht begriffen, daß der Führer euch schändlich belogen hat, als er sagte, Rußland habe zu einem Überfall auf Deutschland gerüstet?«
Dann lief sie Quangel nach.
Sie erreichte ihn, als er das Gebäude verließ, sie drängte sich an seine Seite und sagte: »Hast du mich eben nicht erkannt, Vater? Ich bin’s doch, die Trudel, Ottochens Trudel!«
Er drehte ihr den Kopf zu, der ihr noch nie so vogelhaft hart vorgekommen war wie in diesem Augenblick. Einen Moment glaubte sie, er werde sie nicht wiedererkennen wollen, aber dann nickte er kurz und sagte: »Siehst wohl aus, Mädel!«
»Ja«, sagte sie, und ihre Augen strahlten. »Ich fühle mich auch so kräftig und glücklich wie noch nie. Ich erwarte ein Kindchen. Ich habe mich verheiratet. Bist nicht böse, Vater?«
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