In diese Stille trat als erster Kunde ein langer Mann und sagte zu Frau Häberle: »Hören Se mal, Sie haben da so ein paar Wellensittiche im Fenster. Was soll denn ein Paar von denen kosten? Es müßte aber ein Pärchen sein, ich bin immer für Pärchen gewesen …« Und Borkhausen fuhr herum, in gespieltem Erstaunen, in absichtlich schlecht gespieltem Erstaunen rief er den Kluge an, der sich eben sachte in die Hinterstube des Ladens verdrücken wollte: »Aber das bist du doch, Enno! Nanu, ich rede, ich kieke, ich denke, das kann doch nicht der Enno sein, was soll denn der Enno in so ’nem kleinen Tierzoo? Und nun bist du es doch, Kumpel! Na, was machste denn noch so, Kumpel?«
Enno war, die Klinke in der Hand, wie gebannt auf seinem Platz stehengeblieben, gleich unfähig, fortzulaufen und zu antworten.
Frau Hete aber starrte den langen Mann, der so freundlich auf Enno einredete, mit großen Augen an, ihre Lippen fingen an zu zittern, und die Knie wurden ihr weich. Da war sie also doch, die Gefahr, alles war also nicht gelogen, was Enno erzählt hatte von seiner Bedrängnis durch die Gestapo. Denn daß dieser Mann mit dem ebenso feigen wie brutalen Gesicht ein Spitzel der Gestapo war, daran zweifelte sie keinen Augenblick.
Aber als nun diese Gefahr wirklich geworden war, da zitterte nur der Körper von Frau Hete. Ihr Geist war ruhig, und dieser Geist sagte ihr: Jetzt, in dieser Gefahr, kannst du den Enno unmöglich im Stich lassen, er mag sein, wie er will.
Und Frau Hete sagte zu diesem Mann mit dem stechenden Blick, der immer wieder abirrte, sie sagte zu diesem Mann, der wie ein richtiger Achtgroschenjunge aussah: »Vielleicht trinken Sie eine Tasse Kaffee mit uns, Herr – wie ist doch Ihr Name?«
»Borkhausen, Emil Borkhausen«, stellte der Spitzel sich vor. »Bin ein alter Freund von dem Enno, Sportsfreund. Was sagen Sie nun, Frau Häberle, zu dem großartigen Coup, den er gestern auf Adebar gelandet hat? Wir haben uns in der Sportkneipe getroffen – hat er es Ihnen nicht gesagt?«
Frau Hete warf einen raschen Blick auf Enno. Da stand er noch immer, die Hand auf der Klinke, genau wie ihn die vertrauliche Ansprache Borkhausens überrascht hatte. Ein Bild hilfloser Angst. Nein, er hatte ihr nichts von diesem Treffen mit dem alten Bekannten gesagt, er hatte sogar behauptet, er hätte niemanden Bekanntes gesehen. Er hatte sie also wieder mal belogen – und sehr zu seinem eigenen Schaden hatte er das getan, denn nun war ja ganz klar, wie dieser Spitzel seine Zuflucht bei ihr gefunden hatte. Hätte er gestern abend schon etwas von diesem Bekannten gesagt, so hätte man ihn noch fortschaffen können …
Aber dies war nicht der Augenblick, mit Enno Kluge zu hadern oder ihm seine Lügen vorzuwerfen. Dies war der Augenblick zu handeln. Und so sagte sie denn noch einmal: »Also trinken wir eine Tasse Kaffee, Herr Borkhausen. Jetzt kommt noch nicht so viel Kundschaft, Enno, du paßt auf den Laden auf. Ich werde zuerst einmal mit deinem Freund reden …«
Jetzt war Frau Hete auch über das Zittern des Körpers hinaus. Sondern sie dachte nur daran, wie es damals mit ihrem Walter gegangen war, und diese Erinnerungen gaben ihr Kraft. Sie wußte, diesen Leuten gegenüber half kein Zittern, Klagen, Anrufen des Mitleids, sie hatten kein Herz, diese Henkerslieferanten von Hitler und Himmler. Sondern wenn eines half, so war es Mut, Nichtfeigesein, Nieangsthaben. Die glaubten, alle Deutschen seien feige, wie es jetzt der Enno war; aber sie war es nicht, Frau Hete, verwitwete Häberle, war es nicht.
Sie erreichte durch ihr ruhiges Auftreten auch, daß die beiden Männer sich ihr widerspruchslos fügten. Im Abgehen zur Stube sagte sie noch: »Und keine Dummheiten, Enno! Kein sinnloses Fortlaufen! Denke daran, dein Mantel hängt in der Stube, und Geld wirst du auch kaum in der Tasche haben.«
»Sie sind ’ne kluge Frau«, sagte Borkhausen, indem er sich an den Tisch niedersetzte und zusah, wie sie ihm eine Kaffeetasse hinstellte. »Und energisch sind Sie auch, hätte ich gar nicht gedacht, wie ich Sie gestern abend zum ersten Mal sah.«
Ihre Blicke begegneten sich.
»Na ja«, setzte Borkhausen dann schnell hinzu, »eigentlich waren Sie gestern abend auch energisch, wie er da auf den Knien vor Ihnen rumrutschte, und Sie schlossen ihm die Tür vor der Nase ab. Sie werden sie ja wohl über Nacht nicht wieder aufgeschlossen haben – oder?«
Ein wenig Rot war bei dieser schamlosen Anspielung in Frau Hetes Wangen gestiegen, die beschämende, die ekelhafte Szene von gestern abend hatte also sogar einen Zeugen gehabt, und solch widerlichen dazu! Aber sie faßte sich rasch und sagte: »Ich nehme an, Sie sind auch ein kluger Mann, Herr Borkhausen, wir wollen doch jetzt gar nicht von Nebensachen reden, sondern nur vom Geschäft. Ich nehme an, es kann ein Geschäft werden?«
»Vielleicht, vielleicht sicher …« beeilte sich Borkhausen zu beteuern, unwillkürlich eingeschüchtert von dem Tempo, das diese Frau vorlegte.
»Sie wollen also«, fuhr Frau Hete fort, »ein Paar Wellensittiche kaufen. Ich nehme an, um sie dann fliegen zu lassen. Denn wenn sie weiter im Käfig bleiben, haben die Sittiche doch nichts davon …«
Borkhausen kratzte sich den Kopf. »Frau Häberle«, sagte er dann, »das mit den Sittichen, das wird mir zu kompliziert. Ich bin bloß ein einfacher Mensch, wahrscheinlich sind Sie viel schlauer als ich. Hoffentlich legen Sie mich nicht rein.«
»Und Sie mich nicht!«
»Keine Ahnung! Ich will ganz offen mit Ihnen reden, nichts von Sittichen und so. Ich sage Ihnen alles, wie es ist, die ganze Wahrheit. Ich habe nämlich von der Gestapo den Auftrag, von dem Kommissar Escherich habe ich ihn, wenn der Ihnen ein Begriff ist?« Frau Hete schüttelte den Kopf. »Also ich hab den Auftrag, zu ermitteln, wo der Enno steckt. Weiter nichts. Warum und wieso, davon habe ich keine Ahnung. Ich will Ihnen was sagen, Frau Häberle, ich bin ein ganz einfacher, offener Mensch …«
Er neigte sich zu ihr hinüber; sie sah ihm in die Augen, die stechend waren. Sein Blick irrte ab, der Blick des einfachen, offenen Menschen.
»Ich habe mich eigentlich über den Auftrag gewundert, Frau Häberle, das will ich Ihnen ehrlich sagen. Denn wir beide wissen doch, was der Enno für ein Mensch ist, nämlich ein Garnichts, nur mit ein bißchen Rennwetten und Weibergeschichten im Kopf. Und nach diesem Enno jagt jetzt die Gestapo, und sogar noch die Politische Abteilung, wo alles Hochverrat und Kohlrübe-ab wird. Ich versteh das nicht – verstehen Sie das?« Er sah sie erwartungsvoll an. Wieder begegneten sich ihre Blicke, und wieder geschah es wie vorhin: er konnte sie nicht ansehen.
»Erzählen Sie ruhig weiter, Herr Borkhausen«, fuhr sie fort. »Ich hör zu …«
»Kluge Frau!« nickte Borkhausen. »Verdammt kluge Frau und energisch. Das gestern abend mit der Knierutscherei …«
»Wir wollten nur vom Geschäft reden, Herr Borkhausen!«
»Na gewiß doch! Ich bin nämlich ein braver, richtig offener deutscher Mensch, und da werden Sie sich vielleicht wundern, daß ich bei der Gestapo bin. Das denken Sie vielleicht. Nee, Frau Häberle, ich bin nicht bei der Gestapo, ich arbeite nur manchmal für sie. Der Mensch will leben, nicht wahr, und ich habe fünf Gören zu Haus, der Älteste gerade erst dreizehn. Alle muß ich sie ernähren …«
»Das Geschäft, Herr Borkhausen!«
»Nee, Frau Häberle, ich bin nicht bei der Gestapo, ich bin ein ehrlicher Mensch. Und wie ich das hörte, daß sie meinen Freund Enno suchen und sogar hohe Belohnungen auf ihn aussetzen, und ich kenne doch den Enno von früher und bin sein richtiger Freund, wenn wir uns auch mal gestritten haben – da habe ich also gedacht, Frau Häberle: Kieke da, den Enno suchen sie! Den kleinen Garnichts. Wenn ich ihn nur fände, hab ich gedacht, verstehen Sie, Frau Häberle, dann könnte ich ihm vielleicht einen Wink geben, daß er abhaut, solange es noch Zeit ist. Und ich hab zu dem Kommissar Escherich gesagt: ›Wegen dem Enno machen Sie sich man keine Mühe, den schaff ich Ihnen, weil er nämlich ein alter Freund von mir ist.‹ Und da habe ich denn den Auftrag gekriegt, und nun sitze ich hier bei Ihnen, Frau Häberle, und der Enno wirtschaftet im Laden, und es ist alles eigentlich in bester Butter …«
Читать дальше