»Was bist du denn dem Führer noch nutze? Der Führer schert sich einen Dreck um dich, der wirft nicht einen Blick auf dein Geklaue! Außerdem kannst du mit deinen alten, zittrigen Säuferhänden gar nicht mehr schreiben, und außerdem lassen die hier gar keinen Brief von dir raus, dafür werde ich sorgen! Schade um das Papier!«
»Baldur, habe doch Erbarmen mit mir! Du bist doch mal ein kleiner Junge gewesen! Ich bin doch sonntags mit dir spazierengegangen. Weißt du noch, wie wir mal auf dem Kreuzberg waren, und das Wasser lief so schön rosa und blau? Ich hab dir immer Würstchen und Bonbons gekauft, und als du damals mit elf Jahren die Geschichte mit dem kleinen Kind angestellt hattest, da habe ich dafür gesorgt, daß du nicht von der Schule flogst und in Zwangserziehung kamst! Was wärst du ohne deinen ollen Vater, Baldur? Und nun darfste mich auch nicht in dieser Klapsmühle steckenlassen!«
Baldur hatte sich diesen langen Erguß, ohne eine Miene zu verziehen, angehört. Nun sagte er: »Also jetzt willst du auf die Gefühlstube drücken, Vater? Finde ich ganz tüchtig von dir. Bloß so was wirkt bei mir nicht, das müßtest du doch wissen, daß ich mir aus Gefühlen nichts mache! Gefühle – eine richtige Schinkenstulle ist mir lieber als alle Gefühle! Aber ich will nicht so sein, ich will dir noch ’ne Zigarette schenken – allez hopp!«
Aber der Alte war zu aufgeregt, um jetzt an Rauchen zu denken. Die Zigarette fiel – zum neuen Ärger Baldurs – unbeachtet auf den Boden.
»Baldur!« flehte der Alte wieder. »Du weißt nicht, was dies für ein Haus ist! Hier lassen sie einen verhungern, und immer schlagen einen die Pfleger. Und die andern Kranken schlagen mich auch. Ich hab so zittrige Hände, ich kann mich nicht wehren, und dann nehmen sie mir das bißchen Essen auch noch weg …«
Während der Alte so flehte, hatte Baldur sich zum Fortgehen fertiggemacht, aber sein Vater klammerte sich an ihn, er hielt den Sohn fest und fuhr immer eiliger fort: »Und es kommen noch viel schrecklichere Dinge vor. Manchmal gibt der Oberpfleger den Kranken, die ein bißchen laut waren, eine Spritze mit so ’nem grünen Zeug, ich weiß nicht, wie es heißt. Und davon müssen die Leute immerzu kotzen, sie kotzen sich die Seele aus dem Leibe, und plötzlich sind sie weg. Mausetot, Baldur, du wirst doch nicht wollen, daß dein Vater so stirbt, indem er sich die Seele aus dem Leibe kotzt, dein eigener Vater! Baldur, sei gut, hilf mir! Nimm mich hier raus, ich habe solche Angst!«
Aber Baldur Persicke hatte sich jetzt lange genug dieses Geflenne angehört. Er machte sich von dem alten Persicke gewaltsam los, drückte ihn in einen Sessel und sagte: »Na, dann mach’s gut, Vater! Ich werde die Mutter von dir grüßen. Und denke daran, daß da am Tisch noch eine Zigarette liegt. Wäre ja schade darum!«
Damit ging dieser echte Sohn seines Vaters.
Baldur aber verließ noch nicht die Trinkerheilanstalt, sondern er ließ sich bei Herrn Oberarzt Dr. Martens melden. Er hatte auch Glück, der Oberarzt war sowohl da wie auch zu sprechen. Er begrüßte seinen Besucher höflich, und einen Augenblick sahen sich die beiden vorsichtig musternd an.
Dann sagte der Oberarzt: »Wie ich sehe, sind Sie auf der Napola, Herr Persicke, oder irre ich mich?«
»Nein, Herr Oberarzt, ich bin auf der Napola«, antwortete Baldur stolz.
»Ja, heute geschieht für unsere Jugend allerhand«, meinte der Oberarzt, beifällig nickend. »Ich wollte, ich hätte in meiner Jugend auch solche Förderung erfahren. Sie sind noch nicht zum Kriegsdienst eingezogen, Herr Persicke?«
»Mit dem üblichen Kommiß werde ich wohl verschont werden«, sagte nachlässig-verächtlich Baldur Persicke. »Ich werde wohl ein großes ländliches Gebiet zur Verwaltung bekommen, Ukraine oder Krim. Ein paar Dutzend Quadratkilometer.«
»Ich verstehe«, nickte der Arzt.
»Sie sind in der Partei, Herr Doktor Martens?«
»Leider nicht. Die Wahrheit zu gestehen, ein Großvater von mir hat eine Torheit begangen, der bekannte kleine Webfehler, Sie wissen?« Und eilig fortfahrend: »Aber die Sache ist beigelegt und geordnet, meine Chefs sind für mich eingetreten, ich gelte als reiner Arier. Ich möchte sagen: Ich bin es. In Kürze hoffe ich auch, das Hakenkreuz tragen zu dürfen.«
Baldur saß sehr gerade. Als reiner Arier fühlte er sich seinem Gegenüber weit überlegen, der solche Hintertreppen brauchte. »Ich wollte mit Ihnen wegen meines Vaters reden, Herr Oberarzt«, sagte er, fast im Tone eines Vorgesetzten.
»Oh, mit Ihrem Vater geht alles glatt, Herr Persicke! Ich denke, in sechs, acht Wochen werden wir ihn als geheilt entlassen können …«
»Mein Vater ist nicht heilbar!« unterbrach ihn Baldur Persicke schroff. »Mein Vater hat getrunken, seit ich denken kann. Und wenn Sie ihn hier vormittags als geheilt entlassen, wird er nachmittags bei uns betrunken ankommen. Wir kennen diese Heilungen. Meine Mutter und meine Geschwister wünschen, daß mein Vater den Rest seines Lebens hier verbringt. Ich schließe mich diesen Wünschen an, Herr Oberarzt!«
»Gewiß, gewiß!« beeilte sich der Arzt zu versichern. »Ich werde mit dem Professor darüber sprechen …«
»Das ist ganz unnötig. Was wir hier vereinbaren, ist endgültig. Sollte mein Vater wirklich wieder bei uns zu Hause eintreffen, so wird dafür gesorgt sein, daß noch am gleichen Tage eine neue Einlieferung hier erfolgt, und zwar eines völlig betrunkenen Mannes! So würde Ihre vollständige Heilung aussehen, Herr Oberarzt, und ich stehe Ihnen dafür, daß die Folgen für Sie nicht angenehm sein würden!«
Die beiden sahen einander durch ihre Brillengläser an. Aber leider war der Oberarzt ein Feigling: er senkte vor dem schamlos frechen Blick Baldurs das Auge. Er sagte: »Gewiß ist bei Dipsomanen, bei Trinkern, die Gefahr eines Rückfalls stets groß. Und wenn Ihr Herr Vater, wie Sie mir eben berichtet haben, schon stets getrunken hat …«
»Er hat seine Kneipe versoffen. Er hat alles, was meine Mutter verdient hat, versoffen. Und er würde heute noch alles, was wir vier Kinder verdienen, versaufen, wenn wir es zuließen. Mein Vater bleibt hier!«
»Ihr Vater bleibt hier. Bis auf weiteres. Wenn Sie später, eventuell nach dem Kriege, bei einem Besuch doch den Eindruck haben sollten, daß Ihr Herr Vater sich wesentlich gebessert hat …«
Wieder schnitt Baldur Persicke dem Arzt das Wort ab. »Mein Vater wird keine Besuche mehr empfangen, weder von mir noch von meinen Geschwistern, noch von meiner Mutter. Wir wissen, er ist hier gut aufgehoben, das genügt uns.« Baldur sah den Arzt durchdringend an, hielt seinen Blick fest. Während er bisher mit lauter, fast befehlender Stimme gesprochen hatte, fuhr er nun leise fort: »Mein Vater hat mir von gewissen grünen Spritzen gesprochen, Herr Oberarzt …«
Der Oberarzt fuhr ein wenig zusammen.
»Eine reine Erziehungsmaßnahme. Ganz gelegentlich bei renitenten jüngeren Patienten angewandt. Schon das Alter Ihres Vaters verbietet …«
Wieder wurde er unterbrochen. »Mein Vater hat bereits eine dieser grünen Spritzen bekommen …«
Der Arzt rief: »Das ist ausgeschlossen! Verzeihung, Herr Persicke, da muß ein Irrtum vorliegen!«
Baldur sagte streng: »Mein Vater hat mir von dieser einen Spritze berichtet. Er erzählte mir, sie habe ihm gutgetan. Warum wird er nicht weiter so behandelt, Herr Oberarzt?«
Der Arzt war völlig verwirrt. »Aber Herr Persicke! Eine reine Erziehungsmaßnahme! Der Behandelte bricht stundenlang, oft tagelang danach!«
»Na, und was weiter? Lassen Sie ihn doch kotzen! Vielleicht macht ihm Kotzen Spaß! Mir hat er versichert, die grüne Spritze hätte ihm gutgetan. Er sehnt sich geradezu nach der zweiten. Warum verweigern Sie ihm das Mittel, da es ihn doch bessert?«
»Nein, nein!« entgegnete der Arzt eilig. Und er setzte voll Scham über sich selbst hinzu: »Es muß ein Mißverständnis vorliegen! Ich habe noch nie gehört, daß Patienten eine Spritze mit …«
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