»Herr Oberarzt, wer versteht einen Patienten besser als der eigene Sohn? Und ich bin der Lieblingssohn meines Vaters, müssen Sie wissen. Ich wäre Ihnen wirklich sehr verbunden, wenn Sie dem Oberpfleger, oder wer dafür zuständig ist, jetzt noch in meiner Gegenwart die Weisung erteilen würden, meinem Vater sofort solch eine Spritze zu verabfolgen. Ich ginge sozusagen beruhigter nach Haus – habe ich dem alten Mann doch einen Wunsch erfüllt!«
Der Arzt sah sehr blaß in das Gesicht seines Gegenübers.
»Sie meinen also wirklich? Ich soll jetzt auf der Stelle?« murmelte er.
»Aber kann denn an meiner Meinung noch ein Zweifel bestehen, Herr Oberarzt? Ich finde Sie für einen leitenden Arzt entschieden ein wenig weich. Sie hatten vorhin wirklich ganz recht: Sie hätten eine Napola besuchen und Ihre Führereigenschaften kräftiger entwickeln müssen!« Und er fügte boshaft hinzu: »Freilich gibt es bei Ihrem Geburtsfehler noch andere Erziehungsmöglichkeiten …«
Nach einer langen Pause sagte der Arzt leise: »Ich werde jetzt also gehen und Ihrem Vater seine Spritze machen …«
»Aber, bitte, Herr Doktor Martens, warum lassen Sie das nicht den Oberpfleger tun? Da es doch zu seinen Pflichten zu gehören scheint?«
Der Arzt saß in einem schweren Kampf mit sich. Es war wieder ganz still im Zimmer.
Dann stand er langsam auf. »Ich werde also dem Oberpfleger Bescheid sagen …«
»Ich begleite Sie gerne. Ich interessiere mich mächtig für Ihren Betrieb. Sie verstehen, Aussonderung des nicht Lebenswerten, Sterilisierungen und so weiter …«
Baldur Persicke stand daneben, wie der Arzt dem Oberpfleger seine Weisungen erteilte. Dem Patienten Persicke sei die und die Spritze zu verabfolgen …
»Also eine Kotzspritze, mein Lieber!« sagte Baldur huldreich. »Wieviel geben Sie denn im allgemeinen? Soso, na, ein bißchen mehr wird auch nichts schaden, was? Kommen Sie mal, ich habe hier ein paar Zigaretten. Na, nehmen Sie schon die ganze Schachtel, Oberpfleger!«
Der Oberpfleger bedankte sich und ging, die Spritze mit der grünen Flüssigkeit in der Hand.
»Na, da haben Sie aber einen richtigen Bullen zum Oberpfleger! Ich kann mir schon denken, wenn der dazwischenschlägt, gibt’s Kleinholz. Muskeln, Muskeln sind das halbe Leben, Herr Doktor Martens! Na, denn noch meinen schönsten Dank, Herr Oberarzt! Hoffentlich geht die Behandlung recht erfolgreich weiter. Na denn, Heil Hitler!«
»Heil Hitler, Herr Persicke!«
In seinem Dienstzimmer angekommen, sank der Oberarzt Dr. Martens schwer in einen Sessel. Er fühlte, daß er an allen Gliedern zitterte und daß kalter Schweiß seine Stirn bedeckte. Aber er fand noch keine Ruhe. Er stand wieder auf und ging an den Medikamentenschrank. Langsam zog er sich eine Spritze auf. Aber es war keine grüne Flüssigkeit darin, so sehr er auch Grund fühlte, über die ganze Welt und sein Leben insbesondere zu kotzen. Dr. Martens zog Morphium vor.
Er kehrte in seinen Sessel zurück, streckte die Glieder behaglich aus, auf die Wirkung des Narkotikums wartend.
Wie feige ich doch bin! dachte er. Feige zum Ekeln! Dieser elende, freche Bengel – wahrscheinlich besteht der einzige Einfluß, den er hat, in seiner großen Schnauze. Und ich bin vor ihm gekrochen. Ich hätte es nicht nötig gehabt.
Aber immer diese verfluchte Großmutter, und daß ich den Mund nicht halten kann! Und dabei war sie eine so reizende alte Dame, und ich habe sie so geliebt …
Seine Gedanken verloren sich, er sah die alte Dame mit dem feinen Gesicht wieder vor sich. In ihrer Wohnung roch es überall nach dem Potpourritopf mit Rosenblättern und nach Aniskuchen. Sie hatte eine so feine Hand, eine altgewordene Kinderhand …
Und ihretwegen habe ich mich vor diesem Schuft gedemütigt! Aber ich glaube, Herr Persicke, ich werde doch lieber nicht in die Partei eintreten. Ich glaube, dafür ist es zu spät. Es hat schon ein bißchen sehr lange gedauert mit euch!
Er blinzelte, er streckte sich. Er atmete wohlig, jetzt war ihm wieder gut zumute.
Ich werde gleich nachher nach dem Persicke sehen. Mehr Spritzen bekommt er jedenfalls nicht. Hoffentlich übersteht er’s. Gleich nachher sehe ich nach ihm, erst einmal will ich die schönste Wirkung genießen. Aber gleich nachher – Ehrenwort!
56
Otto Quangels anderer Zellengefährte
Als Otto Quangel von einem Aufseher in seine neue Zelle im Untersuchungsgefängnis geführt wurde, stand ein großer Mann vom Tisch auf, an dem er lesend gesessen, und stellte sich unter das Zellenfenster, in der vorschriftsmäßigen Haltung, mit den Händen an der Hosennaht. Aber die Art, wie er diese »Ehrenbezeigung« ausführte, verriet, daß er sie nicht für sehr notwendig hielt.
Der Aufseher winkte auch gleich ab. »Is ja jut, Herr Doktor«, sagte er. »Da haben Sie einen neuen Zellengefährten!«
»Schön!« sagte der Mann, der aber für Otto Quangel mit seinem dunklen Anzug, seinem Sporthemd und Schlips mehr wie ein »Herr« als wie ein Zellenkamerad aussah. »Schön! Mein Name ist Reichhardt, Musiker. Kommunistischer Umtriebe beschuldigt. Und Sie?«
Quangel fühlte eine kühle, feste Hand in der seinen. »Quangel«, sagte er zögernd. »Ich bin Tischler. Ich soll Hoch- und Landesverrat begangen haben.«
»Ach, Sie!« rief der Dr. Reichhardt, der Musiker, dem Aufseher nach, der eben die Tür schließen wollte. »Von heut an wieder zwei Portionen, ja?«
»Is ja jut, Herr Doktor!« sagte der Aufseher. »Weeß ich ja von alleene!«
Und die Tür schloß sich. – Die beiden sahen sich einen Augenblick prüfend an. Quangel war mißtrauisch, fast sehnte er sich nach seinem Karlchen Hund im Gestapokeller zurück. Mit diesem feinen Herrn, einem richtigen Doktor, sollte er nun zusammen leben – es war ihm unbehaglich.
Der »Herr« lächelte mit den Augen. Dann sagte er: »Tun Sie nur so, als wenn Sie alleine wären, wenn Ihnen das lieber ist. Ich werde Sie nicht stören. Ich lese viel, ich spiele mit mir selbst Schach. Ich treibe Gymnastik, um den Körper frisch zu erhalten. Manchmal singe ich ein wenig vor mich hin, aber nur ganz leise; es ist natürlich verboten. – Würde Sie das stören?«
»Nein, das stört mich nicht«, antwortete Quangel. Und fast wider seinen Willen setzte er hinzu: »Ich komme aus dem Bunker von der Gestapo und habe da an die drei Wochen mit einem Verrückten zusammengesperrt gelebt, der ewig nackt war und Hund spielte. Mich stört so leicht nichts mehr.«
»Gut!« sagte der Dr. Reichhardt. »Noch schöner wäre es freilich gewesen, wenn Sie Musik ein wenig gefreut hätte. Es ist die einzige Art, sich hier in diesen Mauern Harmonie zu verschaffen.«
»Davon versteh ich nichts«, antwortete Otto Quangel abweisend. Und er setzte hinzu: »Es ist ein mächtig feines Haus gegen das, wo ich gewesen bin, was?«
Der Herr hatte sich wieder an den Tisch gesetzt und sein Buch in die Hand genommen. Er antwortete freundlich: »Ich war da unten auch eine Weile, wo Sie gewesen sind. Ja, etwas besser ist es schon hier. Wenigstens wird man nicht geschlagen. Die Aufseher sind meist stumpf, aber nicht völlig verroht. Doch Gefängnis bleibt Gefängnis, das wissen Sie ja. Ein paar Erleichterungen. Ich darf zum Beispiel lesen, rauchen, mir mein eigenes Essen kommen lassen, eigene Kleidung und Bettwäsche halten. Aber ich bin ein Sonderfall, und auch eine erleichterte Haft bleibt Haft. Man muß erst so weit kommen, daß man die Gitter nicht mehr fühlt.«
»Und sind Sie so weit?«
»Vielleicht. Meistens. Nicht immer. Durchaus nicht immer. Wenn ich zum Beispiel an meine Familie denke, dann nicht.«
»Ich hab nur ’ne Frau«, sagte Quangel. »Hat dieses Gefängnis auch eine Frauenseite?«
»Ja, die gibt es hier, wir sehen aber nie etwas von den Frauen.«
»Natürlich nicht.« Otto Quangel seufzte schwer. »Meine Frau haben sie auch eingesteckt. Hoffentlich haben sie die heute auch hierhergebracht.« Und er setzte hinzu: »Sie ist zu weich für das, was sie im Bunker aushalten mußte.«
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