Sie ging leise zwischen den Toten umher. Sie sah in all diese Gesichter, die ausgelöscht waren. Manche waren durch Wunden so entstellt, daß sie nicht zu erkennen waren, aber die Haarfarbe, ein Mal am Körper verriet ihr, daß es nicht Karl Hergesell sein konnte.
Sie kam zurück, sehr bleich.
»Nein, er ist nicht hier. Noch nicht.«
Der Posten vermied ihren Blick. »Also denn los!« sagte er und ließ sie vorangehen.
Aber solange er an diesem Tag Wache hatte auf ihrem Zellengang, öffnete er immer wieder mal die Tür, damit sie bessere Luft in die Zelle bekämen. Er brachte ihnen auch frische Wäsche für das Bett der Toten – und das war in dieser erbarmungslosen Hölle ein sehr großes Erbarmen.
An diesem Tag hatte Kommissar Laub nicht viel Erfolg mit der Vernehmung der beiden Frauen. Sie hatten einander getröstet, und sie hatten ein bißchen Sympathie zu fühlen bekommen, sogar von einem SS-Mann, sie waren stark.
Aber es kamen noch so viele Tage, und dieser SS-Mann tat nie wieder Dienst auf ihrem Flur. Er war wohl als ungeeignet abgelöst, er war noch zu sehr Mensch, um hier Dienst zu tun.
55
Baldur Persicke macht Besuch
Baldur Persicke, der stolze Schüler der Napola, der erfolgreichste Sproß vom Hause Persicke, hat seine Geschäfte in Berlin abgeschlossen. Er kann endlich wieder zurückfahren und sich darin ausbilden, ein Herr der Welt zu sein. Er hat seine Mutter aus ihrem Schlupfwinkel bei den Verwandten zurückgeholt und ihr streng befohlen, die Wohnung nicht wieder zu verlassen, sonst passiere ihr allerlei, und er hat auch einmal seine Schwester im KZ Ravensbrück besucht.
Er hat ihr nicht seine Anerkennung für das treffliche Antreiben alter Frauen versagt, und abends haben Bruder und Schwester mit einigen andern Aufseherinnen von Ravensbrück und einigen Freunden aus Fürstenberg eine richtige saftige kleine Orgie gefeiert, ganz im intimsten Kreis, mit viel Alkohol, Zigaretten und »Liebe« …
Aber die Hauptanstrengungen Baldur Persickes haben doch mehr der Erledigung ernster geschäftlicher Angelegenheiten gegolten. Der Vater, der alte Persicke, hatte ja einige kleine Dummheiten in seinem Suff begangen, Geld sollte in der Kasse fehlen, er sollte sogar vor ein Parteigericht gestellt werden. Aber Baldur hatte alle seine Beziehungen spielen lassen, er hatte mit ärztlichen Attesten gearbeitet, die den Vater als einen altersschwachen Mann schilderten, er hatte gebettelt und gedroht, er war zackig und demütig aufgetreten, er hatte auch den Einbruch, bei dem das Geld wieder gestohlen war, weidlich ausgebeutet – und schließlich hatte es der getreueste Sohn des Hauses wirklich erreicht, daß die ganze faule Kiste ohne Sang und Klang beigelegt wurde. Nicht einmal aus der Wohnung hatte er etwas verkaufen müssen – der Fehlbetrag war als gestohlen ausgebucht. Aber nicht etwa vom alten Persicke gestohlen – o nein, o nein! Sondern von Borkhausen und Genossen gestohlen, so wurde ein Schuh daraus, so blieb der Ehrenschild der Persickes rein.
Und während die Hergesells mit Schlägen und dem Tode bedroht wurden für ein Verbrechen, das sie nicht begangen hatten, wurde das Parteimitglied Persicke für ein begangenes Verbrechen entsühnt.
Also dieses alles hatte Baldur Persicke bestens erledigt, wie es ja auch gar nicht anders von ihm zu erwarten war. Er hätte abreisen können auf seine Napola, aber vorher will er doch noch eine Anstandspflicht erfüllen, er will seinen Vater in der Trinkerheilstätte besuchen. Außerdem möchte er ja gerne einer Wiederholung solcher Ereignisse vorbeugen und die ängstliche Mutter in der Wohnung sicherstellen.
Da er Baldur Persicke ist, bekommt er auch sofort Besuchserlaubnis, und er darf den Vater sogar allein sprechen, ohne Arzt- und Pflegeraufsicht.
Baldur findet, daß der Alte mächtig heruntergekommen aussieht, er ist zusammengefallen wie ein Gummitier, in das man mit einer Nadel gepiekt hat.
Ja, die guten Tage des verkrachten Budikers sind vorüber, er ist nur noch ein Gespenst, aber ein Gespenst, das nicht frei von Gelüsten ist. Der Vater bettelt den Sohn um etwas Rauchbares an, und nachdem der Sohn sich ein paarmal geweigert hat (»Das hast du alter Verbrecher gar nicht verdient«), schenkt er dem Alten schließlich eine Zigarette. Als aber der alte Persicke darum bettelt, der Sohn möge dem Vater nur ein einziges Mal eine Flasche Schnaps einschmuggeln, da lacht Baldur bloß. Er schlägt dem Vater auf die dürrgewordenen, zittrigen Knie und sagt: »Das mach dir man ab, Vater! Schnaps kriegst du nie mehr in deinem Leben zu saufen, damit hast du mir zuviel Dummheiten gemacht!«
Und während der Vater böse starrt, berichtet der Sohn selbstgefällig von all der Mühe, die ihm die Beilegung dieser Dummheiten gemacht hat.
Der alte Persicke ist nie ein großer Diplomat gewesen, er hat immer seine Meinung geradeheraus gepoltert und nie daran gedacht, was der andere fühlt.
So sagt er denn auch jetzt: »Du bist immer ein Prahlhans gewesen, Baldur! Das habe ich doch gewußt, daß mir von der Partei aus nie was passieren würde, wo ich doch schon fünfzehn Jahre in dem Hitler seinen Laden bin! Nein, wenn’s dich Mühe gekostet hat, ist nur deine eigene Blödheit daran schuld. Ich hätt’s mit ein paar Sätzen erledigt, wenn ich erst draußen bin!«
Der Vater ist dumm. Hätte er dem Sohne ein bißchen geschmeichelt, ihm gedankt und ihn gelobt, so wäre Baldur Persicke wohl gnädiger gestimmt gewesen. Aber jetzt ist er tief in seiner Eitelkeit verletzt, und er sagt nur kurz: »Ja, wenn du erst draußen bist, Vater! Aber du kommst nicht wieder raus aus dieser Klapsmühle, nie in deinem Leben!«
Der Vater bekommt bei diesen erbarmungslosen Worten erst einen solchen Schreck, daß er am ganzen Leibe zittert. Aber er faßt sich wieder und sagt: »Den möchte ich sehen, der mich hier halten könnte! Vorläufig bin ich noch ein freier Mensch, und Oberarzt Dr. Martens hat mir selber gesagt, wenn ich noch sechs Wochen hier weiter die Kur mache, kann ich raus. Dann bin ich geheilt.«
»Du wirst nie geheilt, Vater«, sagt Baldur spöttisch. »Du fängst doch immer wieder mit deinen Saufereien an. Das habe ich nun oft genug erlebt. Ich werde das nachher dem Oberarzt auch sagen und dafür sorgen, daß du entmündigt wirst!«
»Das tut er nicht! Dr. Martens mag mich mächtig gerne; er hat gesagt, so schöne Schweinereien wie ich weiß keiner! Der tut mir das nicht an. Und außerdem hat er mir fest versprochen, daß ich in sechs Wochen entlassen werde!«
»Wenn ich ihm aber erzähle, daß du mich eben erst hast überreden wollen, dir eine Flasche einzuschmuggeln, wird er anders über deine Heilung denken!«
»Das tust du nicht, Baldur! Du bist doch mein Sohn, und ich bin dein Vater …«
»Was ist denn da weiter bei? Von irgendwem muß ich doch der Sohn sein, und ich finde, ich habe gerade einen von den schäbigsten Vätern abbekommen.«
Er sah seinen Vater geringschätzig an. Und dann setzte er hinzu: »Nee, nee, Vater, das mach dir man ab, an den Gedanken gewöhn du dich nur: du bleibst hier. Du blamierst draußen ja doch nur die ganze Innung!«
Der Alte ist verzweifelt. Er sagt: »Die Mutter wird das nie zugeben, das mit der Entmündigung, und daß ich ewig hierbleibe!«
»Na, so ewig wird’s gar nicht werden, wie du jetzt aussiehst!« Baldur lacht und schlägt die Beine mit den schön gebeutelten Reithosen übereinander. Zufrieden betrachtet er den – von der Mutter erzeugten – Glanz seiner Stiefel. »Und Mutter hat solche Angst vor dir, die weigert sich ja sogar, dich zu besuchen. Denkst du, Mutter hat vergessen, wie du sie beim Halse gehabt und gewürgt hast? Das vergißt dir Mutter nie!«
»Dann schreibe ich an den Führer!« rief der alte Persicke aufgebracht. »Der Führer läßt einen alten Kämpfer nicht im Stich!«
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