1 ...6 7 8 10 11 12 ...15 Mit einer für ihn unbekannten Zielstrebigkeit machte er sich daran, seinen Plan umzusetzen. Seine Kenntnisse und Papiere wiesen ihn als Arzt aus, aber sein Äußeres, darüber machte er sich keine Illusionen, würde ihn verraten. Die nächsten Tage verbrachte er Stunden damit, mit Wasser und groben Steinen seine Hände von ihrer dicken verräterischen Hornhaut zu befreien und seine verwachsenen Nägel in eine gepflegtere Form zu bringen. Er schaffte es, mit einer Klinge und unglaublicher Geduld, seinen Haaren und seinem Bart einen Schnitt zu verpassen, der ihm für einen Arzt angemessen erschien.
Das größte Problem war seine Kleidung: Seine Hose und seine Jacke waren nicht nur unendlich verschmutzt, was ihn nie gestört hatte, sondern in einem Zustand, der ihn niemals als honorige Person hätte durchgehen lassen. Aber er erinnerte sich, welche Wirkung Uniformen auf Menschen hatte.
Er wusste, wo es Uniformen gab. So beschloss er, nach Tondern zu ziehen, wo er die Kaserne kannte. Er versteckte sich in dem Wald, mit dem ihn schlimmste Erinnerungen verbanden, um auf eine Gelegenheit zu warten.
Nach drei Tagen voller Hunger, Ängste und Zweifel ergab sich eine solche Gelegenheit.
Ein Uniformierter, der aus welchen Gründen auch immer allein und nicht zu Pferd unterwegs war, verließ den Waldweg, um einem natürlichen Bedürfnis nachzugehen. Jesper hatte es sich früh angeeignet, sich fast lautlos zu bewegen, um ja nicht aufzufallen. Es fiel ihm leicht, sich dem im Unterholz hockenden Mann von hinten anzuschleichen. Der Schnitt durch die Kehle des Mannes mit der Klinge kam so entschlossen und schnell, dass der Soldat keinen Laut mehr ausstoßen konnte. Den Strick, den er sich auf dem Weg nach Tondern gestohlen hatte, sowie einen schweren Stein nutzte er dazu, den Leichnam in dem Waldsee verschwinden zu lassen.
Jesper brauchte Tage, um seine neue Kleidung vom Blut zu reinigen und um nach Flensburg zu ziehen. Immer wieder beschlichen ihn Ängste, wenn er daran dachte, was er sich in den Kopf gesetzt hatte. Ihm war klar, dass sein erstes Auftreten entscheidend war, und deswegen legte er sich wieder und immer wieder die Worte zurecht, mit denen er im Rathaus seine Ankunft ankündigen wollte. In Flensburg angekommen, war er von der Lebhaftigkeit der Stadt verwirrt. Es war schon Jahre her, dass er sich in eine Stadt solcher Größe gewagt hatte.
Die Stadt brodelte vor Geschäftigkeit und wimmelte voller Menschen. Hier konnte er den Menschen nicht aus dem Weg gehen und er hatte den Eindruck, dass jedermann ihn anstarrte. Er zwang sich dazu, nicht ständig hinter sich zu gucken, ob er verfolgt wurde. Er vermied es, den Leuten in die Augen zu schauen, und ergab sich ein zufälliger Blickkontakt, so flatterten seine Augenlider und sein Herz begann zu rasen. Es konnte doch niemand wirklich glauben, dass er Soldat war, dass die Uniform seine eigene war. Die Unruhe der Stadt, von der er wusste, dass sie neben Kopenhagen der größte Handelsplatz im gesamten Norden war, übertrug sich auf ihn. Das Klappern der zahlreichen Fuhrwerke, das Geschrei der Leute ließen ihn zusammenzucken. Der Lärm von der Straße und aus den zahlreichen Hinterhöfen drückte auf seinen Kopf, sodass er immer wieder versucht war, wegzurennen, seiner wahnsinnigen Idee zu entfliehen. Aber dann erkannte er, dass die Leute Ehrfurcht oder sogar Angst vor seiner Uniform spürten, was ihm wieder etwas Sicherheit gab.
Er suchte sich bewusst einen Mann aus, bei dessen schäbiger Kleidung er sich sicher sein konnte, Respekt zu erwarten und den er mit grober Stimme ansprach: „Der Weg zum Rathaus?“
Die Untertänigkeit, die ihm entgegenschlug, steigerte sein Selbstbewusstsein, das sich aber wieder auflöste, als er vor dem prächtigen Gebäude stand, zu dem ihm der Mann den Weg gewiesen hatte. Erst jetzt nahm er wahr, dass er von Macht und Reichtum ausströmenden Gebäuden umgeben war. Das Rathaus selbst war ein Sinnbild für den Aufstieg Flensburgs als Handelsmetropole. Die Bürger der Stadt, zumindest diejenigen, die hier zu Reichtum und Einfluss gekommen waren, hatten ihre Dankbarkeit dafür in Stein hauen lassen. Das Rathaus war ein mehrstöckiges neugotisches Gebäude aus rotem Backstein mit zahlreichen Türmen und Erkern. Das Dach aus roten Ziegeln ragte steil nach oben, als wolle es wie ein nach oben gereckter Finger zeigen, wohin die Stadt strebte. Die vielfältigen schmalen Fenster waren bunt verglast, ohne dem Haus die Würde zu nehmen.
Hier, an diesem Ort sollte sich entscheiden, ob Jesper am Galgen hängen würde oder ihn ein Leben in Amt und Würde erwartete. Ohne noch lange zu überlegen und wieder in Zweifel zu verfallen, schritt er energisch die Granitstufen hoch und befahl einem Rathausdiener, ihn zum Bürgermeister zu führen, der bei dem selbstbewussten Auftreten des Besuchers nicht daran dachte, nach dessen Anliegen zu fragen. Jesper wurde in einen düsteren, aber eindrucksvollen Raum geführt, in dem hinter einem schrankgroßen Schreibtisch aus schwarz gebeizter Eiche ein eher unscheinbarer Mann saß, dessen Tracht und Amtskette ihn aber als Bürgermeister auswies.
Jesper salutierte flüchtig und hielt dem Mann beiläufig die Arzturkunde hin.
Er stellte sich nicht vor, er stellte keine Frage, sondern er ließ seine einstudierten Worte wie einen militärischen Befehl klingen, der keinen Widerspruch und keine Nachfragen zulassen sollte: „Ich werde hier den Posten des Amtsarztes übernehmen.“
Erik Hansen hatten nicht eine besondere Intelligenz oder alte Beziehungen dieses Amt des Bürgermeisters eingebracht, sondern neben seinem Wohlstand die Fähigkeit zu unterscheiden, wann er buckeln musste oder wann er zutreten konnte. Hier schien ihm ein angemessener Respekt vonnöten, so dass Jesper und der Bürgermeister in kürzester Zeit die Modalitäten regelten.
Von dieser Stunde an war aus Jesper Olsen Nis Nilsen geworden, der nun schon so viele Jahre als Amtsarzt in Flensburg residierte und wenn auch nicht beliebt, so doch respektiert wurde. Seine neue Identität war ihm so in Fleisch und Blut übergegangen, dass er die allabendlichen Erinnerungen brauchte, um nie zu vergessen, wo er eigentlich herkam und welches Glück ihm beschieden war.
Nis Nilsen war tief in seinen Gedanken versunken und nach dem dritten Glas Portwein fast eingenickt, als er eine Veränderung im Raum wahrnahm. Es war kein Geräusch, kein Windzug oder Schatten, aber er war nach so vielen Jahren immer noch Soldat genug, um Gefahr zu spüren. Mit einer Geschwindigkeit, die man diesem etwas schwerfälligen Mann nicht zugetraut hätte, schnellte er aus dem Sessel hoch und drehte sich zur Tür. Er bekam nie Besuch und hatte auch noch nie einen Dienstboten in sein Haus gelassen, aber was ihn erschreckte, war nicht die Anwesenheit einer fremden Person in seinen Räumen, sondern der Mann selbst. Der Fremde war nicht von beeindruckender Gestalt, zwar athletisch, aber nicht besonders kräftig. Was Nis Nilsen entsetzte, war die kalte Ruhe und die Selbstsicherheit, die der Mann ausstrahlte. Und Nis registrierte ein fast unscheinbares stilettartiges Messer, das der lautlose Eindringling so locker in der Hand hielt, als wollte er ein Geschenk überreichen. Blitzartig schoss dem Amtsarzt eine Erinnerung in den Kopf, die er vor einigen Jahren in einer der zahlreichen Flensburger Wirtshäuser erlebt hatte.
Ein Mann von furchterregender Gestalt, vermutlich ein Matrose, war offensichtlich mit einem anderen Gast in einen Streit geraten. Der fast sieben Fuß große Mann, der Arme wie Dreschflegel besaß und dessen Gesicht durch zahlreiche Narben gezeichnet war, hatte sofort sein Messer gezogen, das einem kleinen Säbel glich. Er war um sich schlagend und brüllend auf sein Gegenüber losgestürmt. Sein wesentlich kleinerer Gegner war wortlos und scheinbar völlig entspannt stehen geblieben und wich erst im allerletzten Moment dem tödlichen Hieb des Matrosen aus. Kein Mensch im Gasthaus hatte gesehen, wie der Mann ebenfalls sein Messer gezogen haben musste und dem Matrosen einen Stich mitten ins Herz versetzt hatte, so schnell ging der ungleiche Kampf zu Ende. Als der Mann wortlos und fast schlendernd das Wirtshaus verließ, konnte ihm Nis ins Gesicht sehen. Völlig regungslos und ohne Emotionen, ein Bild, das er nicht aus seinem Gedächtnis verloren hatte.
Читать дальше