„Damit du auch bei deiner Feier schön wach bist“, hörte er den Korporal mit fast sanfter Stimme. Die Augen des Korporals leuchteten beinahe freundlich, ähnlich wie die des Vaters, bevor der zur Peitsche gegriffen hatte. Er konnte diese Augen nicht anschauen, wollte sich aufrichten und stellte erst in diesem Moment fest, dass er auf einer hölzernen Bank lag und mit Lederriemen festgeschnallt war. Um ihn herum standen im Kreis alle anderen Rekruten. Keiner sprach, kein hämisches Grinsen. Ihr stilles Mitgefühl erfüllte ihn mit Grauen. Die Angst schlich sich nicht heran mit Herzklopfen oder feuchten Händen, nicht mit zittrigen Beinen oder furchterregenden Bildern im Kopf. Die Angst überrollte ihn, schlug in ihn ein, als ob Bänder aus Eisen um seine Brust gelegt wurden, die sich mit jedem Atemzug zusammenzogen und ihm die Luft abschnitten. Eine Angst, die ihn zum Keuchen und sein Herz zum Rasen brachte, sodass sich sein Brustkorb hob und senkte wie bei einem Kaninchen, bevor es geschlachtet wurde. Er hob seinen Kopf, so weit er konnte, und sah wie der Korporal zu seinen nackten Füßen ging, mit einer beinlangen Stahlfeder in der Hand. Der unbändige Versuch zu fliehen, ließ seinen Körper aufbäumen.
Der Schmerz nach dem ersten Schlag war so ungeheuerlich, dass sein ganzer ausgezerrter Körper und sein Hirn explodierten. Seine Augen konnte nicht mehr aufnehmen, dass sich die Stahlrute durch seine Hornhaut an den Fußsohlen wie durch Papier durchgeschnitten hatte und sich tief in sein Fleisch hineingefressen hatte. Er nahm seinen schrill heulenden Schrei nicht mehr wahr, der nicht mehr menschlich klang und der die Rekruten totenbleich werden ließ. Er schmeckte nicht mehr das Blut, das seinen Mund füllte, als er sich die eigene Zunge fast durchbissen hatte. Es war kein Schmerz, es war eine Feuersbrunst, die sich von außen in ihn hineinfraß und von innen wieder hinaus. Ihn verbrannte. Wenn es einen Gott gab, so sorgte der dafür, dass er die weiteren Schläge nicht mehr spürte. Er versank in einer tiefen Dämmerung, deren Mitleid ihn vor tödlichem Schmerz und abgrundtiefer Angst bewahrte.
Jesper genehmigte sich ein zweites Glas, wobei seine Hand beim Einschenken merklich zitterte und ihm bewusst wurde, dass sich bei seinen Erinnerungen die Zehen seines verunstalteten, völlig vernarbten Fußes unwillkürlich verkrampft hatten. Aber nun konnte er mit bitterer Genugtuung daran denken, dass eben diese Folter, die ihn fast das Leben gekostet hatte, der Auftakt zu einem neuen Leben gewesen war. Ein Leben, das ihm die Chancen geboten hatte, dass er sich nun dort befand, wo er jetzt war. Und diesen Gedanken genoss er. Deswegen tauchte er so gern in seinen Erinnerungen ab.
Man hatte ihn nach der Tortur in ein Lazarettzelt geschleppt, womit der Korporal seine Menschlichkeit unter Beweis stellen wollte. Irgendwann hatte sein junger Körper dafür gesorgt, dass die Blutungen seines zerfetzten Fußes zum Stillstand kamen, und ein mitleidiger Feldarzt hatte seinen Teil dazu beigetragen, indem er Lappen um das zerrissene Fleisch gewickelt hatte und die regelmäßig wechseln ließ. Von all diesem Tun kriegte Jesper nichts mit. Jespers gemarterte Seele hatte seinen Körper verlassen, der in einem ständigen Nebel mit Schmerz und Fieber kämpfte.
Nis Nilsen hatte als Arzt, wenn auch noch jung an Jahren, bereits viel Elend auf den Schlachtfeldern in Schweden und auf Seeland erlebt. Um dieses Leid ertragen zu können, hatte er sich wie jeder Soldat eine Rüstung aus Gefühlskälte zugelegt und sein blutiges Geschäft ohne Anteilnahme auszuführen gelernt. Der junge Kerl, der sich in seiner Bewusstlosigkeit und in seinem hohen Fieber auf dem Strohlager hin- und herwälzte, erweckte allerdings bei ihm Erinnerungen an seinen verstorbenen kleinen Bruder, zu dem er eine tiefe Verbindung gehabt hatte und für dessen Tod er sich verantwortlich hielt. Und deswegen versuchte er seine Schuld dadurch etwas gutzumachen, indem er dafür Sorge trug, dass das arme Bürschchen eine Pflege erhielt, die sonst bestenfalls Offizieren zukam: Die Verbände wurden gewechselt, durch die aufgebrochenen Lippen wurde dem Jungen Wasser und Brühe eingeflößt und eine alte Pferdedecke hielt den kleinen Kerl warm, wenn er sich im Schüttelfrost hin- und herwarf. In den folgenden Wochen erschien es oft so, als würde der Junge seinen Kampf verlieren, und je länger sich Nis darum bemühte, den armen Teufel am Leben zu behalten, desto mehr fühlte er sich mit diesem Häufchen Elend verbunden. Als Jesper immer häufiger das Bewusstsein erlangte und Nis soviel Dankbarkeit für die Zuwendung in dessen Augen las, fasste er einen Beschluss: Er wollte den Jungen als Assistenten an seiner Seite haben. Ein Offizier aus seinem Regiment, dem er aus einer delikaten Situation geholfen hatte, war ihm einen Gefallen schuldig. Eine Hure hatte dem Hauptmann an einer Stelle eine Verwundung beigefügt, für die man keinen Respekt erhielt, sondern wo unerträglicher Spott zu erwarten war. Nis hatte den Offizier mit größter Diskretion behandelt. So wurde man sich schnell einig, dass der Junge an der Seite des Arztes arbeiten sollte, zumal schon feststand, dass Jesper mit seinem maltraitierten Fuß als ordentlicher Soldat nichts mehr taugte.
Als Jesper nach drei Wochen das erste Mal seine Umgebung nicht durch einen Schleier wahrnahm, tauchte der Mann neben seinem Lager auf, den er in den letzten Wochen immer nur schemenhaft vor sich gesehen hatte, der aber scheinbar nichts Böses im Sinn hatte.
„ Du musst wieder zu laufen lernen“, hörte er eine unerklärlich freundliche Stimme.
„Du hast so lange gelegen, dass es Zeit wird, dass du deine Beine bewegst. Und auch dein Fuß muss sich an dein Gewicht gewöhnen.“
Jesper versuchte aufzustehen, aber seine Beine knickten weg wie die bei frisch geborenen Kälbern.
„Zieh dich an meinem Arm hoch und leg deinen Arm um meine Schulter.“
Dieser Befehl schien nicht mit böser Absicht zu kommen, aber ein Unbehagen machte sich in ihm breit. Die Berührung eines Menschen kannte er nur in Form von Schlägen und er zuckte zusammen, als sich der Männerarm ihm entgegenstreckte. Jesper ignorierte den stechenden Schmerz in seinem Fuß und richtete sich auf. Als er umzukippen drohte, schlang der fremde Mann seinen Arm um Jespers Hüfte und hielt ihn aufrecht.
„Du musst jetzt jeden Tag üben. Du wirst mir bei meiner Arbeit helfen und dazu brauchst du deine Beine.“
Die Umarmung war für Jesper zuerst unangenehm, aber dann hatte er das erste Mal in seinem Leben das Gefühl, dass jemand sich um ihn kümmerte, ihm Schutz geben wollte, ihn nicht als mehr oder weniger nützliches Vieh sah. Ein Gefühl, das ihn schlagartig jeden Schmerz vergessen ließ und dazu beitrug, innerhalb weniger Tage so weit zu Kräften zu kommen, dass er erste Hilfsarbeiten und Botengänge verrichten konnte. Für Jesper begann nun eine Zeit, die die glücklichste in seinem bisherigen so armseligen Leben war. Er wurde nicht mehr geschlagen, wurde mit Essen und sogar neuer Kleidung versorgt und für ihn das Erstaunlichste: Er bekam eine Aufmerksamkeit in Form von freundlichen Worten, die ihm bis dahin völlig unbekannt gewesen war. So nahm er alle Arbeiten bereitwillig und mit größter Sorgfalt und Zuverlässigkeit an, vermied jeden Fehler und zeigte einen Eifer, der ihm Lob und auch ein wachsendes Vertrauen des Arztes einbrachte.
„Du sollst lernen, mich bei meiner Tätigkeit als Arzt zu unterstützen.“
Jesper stutzte. Bislang waren ihm, wo immer er auch gewesen war, nur eintönige, meist körperlich äußerst anstrengende Arbeiten aufgetragen worden. Aufgaben als Arthelfer traute er sich nicht im Ansatz zu.
Sie standen neben einem Artilleristen, dessen Bein von einer Lafette überrollt worden war und übel zugerichtet war.
„Leg du ihm einen Verband an. Du hast jetzt oft genug zugeschaut.“
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