seinem Vater vorschreiben. Fritz wusste nicht viel über die Sängerfeste. Christian hatte seine
Fragen stets mit den Worten zurückgewiesen, das hätte noch Zeit und er solle darüber nicht so viel reden. Einmal hatte Fritz nachts im Kerzenlicht, als er und sein Bruder im Bett lagen, eine Tätowierung auf der Innenseite seines Oberarmes gesehen, einen zweistämmigen Baum. Als er Christian darauf angesprochen hatte, war er angeraunzt worden: „Du hast nichts gesehen, halt die Klappe.“ Seine Stimme war so eindringlich gewesen, dass Fritz mit niemanden je darüber gesprochen hatte. Zwei Tage später war der Bruder weg, der, der ihn immer in Schutz genommen hatte, ihm zugehört hatte und ihm alles beigebracht hatte, was ihm wirklich von Nutzen war. Es hieß, er sei auf ein Schiff gegangen. Während die Eltern sogar erleichtert schienen, war für Fritz eine Welt untergegangen. Aber obwohl in der Vergangenheit alles, was der große Bruder gemacht hatte, für Fritz der einzig richtige Weg war, wäre es ihm nie in den Sinn gekommen, seine Heimatstadt zu verlassen.
Fritz hatte keineswegs die Absicht, sich zu beeilen, so wie der Meister es verlangt hatte. Als er an der Hafenmeile am Ballastkai ankam, verlangsamte er seinen Gang, und schaute aufmerksam von Steg zu Steg über das Hafenbecken. Er tat das nicht, um das Schiff ausfindig zu machen. Die Brigg war mit ihren gut 30 Metern Länge und stolzen acht Metern Breite eines der größten Schiffe im Hafen und auch wegen der zwei hohen Masten nicht zu übersehen. Er hielt Ausschau nach seinen Freunden, von denen einige auf den unzähligen Arbeitsschiffen arbeiteten, auf offenen Fischerbooten, auf Lastkähnen oder den unterschiedlichsten kleinen Frachtseglern, die sich selten weit auf die Ostsee wagten. Er hatte sich schon oft gefragt, wie es den Bootsführern immer wieder gelang, durch dieses Gewirr an Booten und Brückenanlagen hindurchzumanövrieren.
Fritz hatte mal aufgeschnappt, dass Flensburg nach Kopenhagen den zweitgrößten Hafen in Nordeuropa besaß, und das hatte ihn stolz gemacht.
Bei der Vielzahl an Schiffen kam es immer wieder zu kleinen Havarien und es wurde auf dem Wasser ständig laut gebrüllt, wenn sich die Boote zu nahe kamen.
Die Innenförde war eng, keine tausend Fuß breit, und zum Mühlenbach hin, der in das Hafenbecken mündete, noch viel schmaler. Von allen Seiten des Ufers aus ragten zudem eine Vielzahl von kleinen Stegen wie Stachel ins Wasser, wobei die meisten nur aus einigen schon sichtbar morschen Eichenpfählen bestanden, zwischen die man irgendwelche Bretter aus zusammengestürzten Häusern oder abgewrackten Booten gelegt hatte. An solchen Stegen, die selbst bei den wagemutigsten Jugendlichen kein Vertrauen genossen, lagen an beiden Seiten oft vier, fünf Kähne aus schmutzig-grauen, flüchtig übergeteerten Planken, die einen nicht minder trostlosen Eindruck machten. Zwischen diesen hölzernen Bootsstellen lagen Abschnitte matschigen Lehms, manchmal von Schilf oder kleinen Büschen bewachsen, auf die man kleine, rotte Kähne oder Ruderboote gezogen hatte, um sie vorm Sinken zu schützen. In den Booten, die vermutlich nie wieder ins Wasser gelassen werden konnten, lag der ganze Müll, den der Hafenbetrieb verursachte, rostiges Eisen, zersplitterte Bretter oder grünspakiges, zerrissenes Segeltuch. Auf der Seite der Förde, wo Fritz stand, sahen die Brücken solider aus. Sie waren größer und stabiler gebaut, denn da legten die Schiffe aus Westindien an oder die Schiffe aus Schweden und Russland, und da wurde das Geld verdient. Und es wurde hier viel Geld verdient, was die rückseitigen Kontorhäuser, Speicher und Kaufmannshäuser zum Ausdruck brachten. Die waren nicht aus Holz zusammengezimmert, sondern mehrgeschossig aus gelbem und rotem Backstein mit steilen Giebeln gebaut. Wenn sie auch sehr schmal waren, so konnte man so manche Schiffsladung in ihnen verstauen. Durch die vielen Maueröffnungen, über denen Kragbalken zum Hochziehen der Waren angebracht waren, ließen sich vor allem die Tausende von Säcken mit Zuckerrohr einlagern, der zu Rum veredelt nicht wenige Kaufleute reich gemacht hatte.
Fritz hob den Kopf und warf noch einmal einen Blick über das gesamte Hafenbecken. Das
Wirrwarr aus den vielen Dutzend Schiffen, vor Anker oder an Brücken, mit ihren Masten,
ihren Stengen und Spieren, den Rahen, Gaffel- und Briggbäumen war so unüberschaubar, dass eine Zuordnung von Rigg und Schiff kaum möglich war. Früher als kleiner Junge hatte Fritz hier am Hafen immer mal die Augen so weit zugekniffen, dass die Kulisse verschwamm. Dann hatte er sich vorstellen können, am Rande einer der Buchenwälder zu stehen, die Flensburg umgaben. Die Masten entsprachen in seiner Vorstellung den schlanken Buchenstämmen, die im Winter ohne ihr Laub ebenso grau und schlank in den Himmel ragten und die einem bei Gefahr Schutz boten.
„Schade“, flüsterte er in sich hinein, als er keinen seiner Freunde entdecken konnte, „hätte heute gut gepasst.“
„Was stehst du hier so dumm rum“, hörte er eine Stimme keuchen und konnte gerade noch
einem Mann ausweichen, der weit nach vorne gebeugt einen schweren, einachsigen Karren
mit Säcken hinter sich her zog. Fritz ging einen Schritt zur Seite und schob sich durch das Menschengewirr in Richtung seines eigentlichen Zieles, der Überseebrücke mit der Brigg. Hier war noch jede Menge Betrieb und er musste ein ums andere Mal Leuten ausweichen, die ihm entgegenkamen. Je näher er an die Ladepier herankam, desto weniger Menschen störten ihn auf seinem Weg. Zwar standen überall Karren und kleine Fuhrwerke, Kisten und Fässer herum, die darauf hindeuteten, dass hier Schiffe be- und entladen worden waren. Er hatte aber erwartet, dass das Gedränge eher mehr werden würde. Im Gegenteil, es wurde ruhiger um ihn herum, was ungewöhnlich war. Normalerweise versammelten sich nach Ankunft der größeren Schiffe eine Vielzahl an verschiedensten Menschen in der Nähe der Kaianlagen: Huren, die sich vermeintlich im Hintergrund hielten und es doch schafften, die ausgehungerten Seeleute auf sich aufmerksam zu machen. Die zahlreichen Schauerleute, die man auch ohne ihre Lasten an ihrer typischen, nach vorn gekrümmten Körperhaltung und ihrem verwachsenem Körperbau erkennen konnte, die vielen Handwerker, die nach Aufträgen lungerten, und natürlich junge Männer wie Fritz, die auf einen Zuverdienst hofften. Zu ihnen gesellten sich die Matrosen, die in der Erkenntnis, dass ihre Freiheit von kurzer Dauer war, voller Übermut und ohne Rücksicht auf die vielen Leute, ihre Stimmung herausbrüllten. Ja, jeder schien mit seiner Lautstärke auf seine Wichtigkeit hinzuweisen.
Heute war es anders und Fritz spürte förmlich die bedrückte Stimmung.
Das konnte nicht an den Polizisten liegen, die sich demonstrativ an die Mauer eines der Kontorhäuser gelehnt hatten- scheinbar gelassen, doch für jedermann sichtbar und jederzeit bereit einzuschreiten. Schon vor zwei Jahren, lange bevor der dänische König Christian VIII im Januar diesen Jahres gestorben war, hatte die ohnehin schon angespannte Stimmung unter den Deutschen in Flensburg und Südschleswig zu Ausschreitungen geführt. Die Deutschen fühlten sich benachteiligt und ausgegrenzt in einem Land, das ihrer Überzeugung nach ein Teil Deutschlands war, das aber von Dänemark regiert wurde. Die Einführung des Dänischen als Amtssprache war als Provokation empfunden worden und als ein weiterer Schritt betrachtet, Südschleswig dem dänischen Reich vollständig einzuverleiben. Aber das Herzogtum Schleswig gehörte wie das Herzogtum Holstein zum Deutschen Bund. Auch wenn der dänische König Herzog von Schleswig und Holstein war, so verlangten viele Schleswiger nicht nur nach einer eigenen Verfassung, sondern auch nach einer Loslösung von Dänemark. Fritz konnte sich noch gut an die Diskussionen zu Hause erinnern, welche Auswirkungen es für die Deutschen hätte, wenn die Dänen mit ihren Vorstellungen zum Ziel kämen. Schon damals hatte sein Bruder Christian voller Wut und Empörung geschrien: „Wenn das kommt, habe ich meine Heimat verloren.“
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