Rob spürte, dass sie unwillkürlich fester nach seiner Hand griff. Sie schien wirklich darauf zu vertrauen, dass er sie beschützte, und er merkte, dass ihm der Gedanke außerordentlich gut gefiel.
Auch jetzt ließ er sie nicht los, als er sie, die Fackel vor sich hertragend, auf dem schmaler werdenden Pfad hinter sich herzog. Dann blieb er erneut stehen. Charlotta, die sich vor allem auf seinen Rücken und ihre Füße konzentriert und nichts um sich herum mitbekommen hatte, sah zu ihm auf. In Erwartung der Überraschung, die er ihr bereiten würde, strahlte Rob über das ganze Gesicht wie ein kleiner Junge. Unwillkürlich musste Charlotta lächeln.
»Schau! Pass aber jetzt ein bisschen mehr auf, hier kann man doch abrutschen.« Robs Stimme hallte in dem unterirdischen Raum. Er schob sie vor sich, dass sie mit dem Rücken an seinem Bauch lehnte, und machte den Blick frei auf ein dunkles Loch.
Ängstlich drückte Charlotta sich gegen ihn, fort von dem Loch. Doch als Rob die Fackel hochhielt, holte sie hörbar tief Luft. »Oh wow! Das sieht ja … dafür habe ich gar keinen Ausdruck!«
Vor ihr öffnete sich ein weiterer Höhlenraum, dessen Boden komplett mit Wasser bedeckt war. Das, was für sie im ersten Augenblick wie ein schwarzes Loch aussah, war ein unterirdischer See. An einigen Stellen ragten Stalagmiten aus dem Wasser, was vermuten ließ, dass die schon dort gewachsen waren, bevor der See entstand. Sie brauchte ihre Hand nur auszustrecken, um eine der hellweiß aufleuchtenden Stalaktiten anzufassen, zögerte jedoch. Gerade dieses unberührte Weiß faszinierte sie. Deshalb wollte sie nicht als Erste dafür verantwortlich sein, dass das mutmaßlich mehrere zehntausend Jahre alte Naturkunstwerk irgendwann so schmuddelig aussah wie in den kommerziellen Tropfsteinhöhlen, in denen die Touristen ihre Finger eben nicht bei sich behalten konnten.
Was Charlotta aber noch viel mehr faszinierte, das waren die Wände des Höhlenraumes. Vor ihr tat sich eine ungleichmäßige Wand aus unterschiedlich dicken Erd- und Gesteinsschichten auf. Jede Schicht bestand aus einer anderen Farbe und Struktur. Überrascht und mit glänzenden Augen atmete sie tief ein und hielt den Atem an. Einige der Schichten reflektierten das Licht der Fackel. Für sie wirkte es, als seien tausende von Sternen in der Wand gefangen und glitzerten nun extra für sie um die Wette. »So etwas Schönes habe ich in meinem ganzen Leben noch nicht gesehen!«, flüsterte sie bewegt. Sie mochte sich nicht losreißen, wollte so lange wie möglich diese fantastischen Bilder in sich aufnehmen. Stumm staunte sie, dermaßen eingenommen von dem naturgeschaffenen Gesamtkunstwerk, das sich ihr bot, dass sie gar keinen Gedanken daran verschwendete, ob ihr Robs Nähe unangenehm sein könnte.
Es war nichts zu hören außer ihrer beider Atem und dem nachhallenden Klatschen der Tropfen, die irgendwo in den Tiefen der Höhle durch den Felsen sinterten und in den dunklen See tropften.
Obwohl sie sich von dem Anblick kaum lösen mochte, merkte Charlotta schließlich, dass ihr langsam kühl wurde. Unwillkürlich zitterte sie und bemerkte dann, dass Rob sie von hinten umfasste. Sie spürte die rechte Hand, mit der er vorher ihre festgehalten hatte, an ihrem linken Arm, und er drückte sie noch ein wenig fester an sich. Sein Oberkörper gab so viel Hitze ab, dass er ihren Rücken damit warm halten konnte. Dennoch waren die Arme kalt.
An Robs Bauch angelehnt, fühlte sie sich überraschend wohl. Das war vermutlich der Grund, weshalb Charlotta zögerte ihn zu bitten, sie wieder nach draußen in die Sonne zu führen. Ein angenehmes Gefühl der Behaglichkeit und Nähe hüllte sie ein, obwohl sie sich doch kaum kannten. Auch der Arm, der zum Teil auf ihrer Brust lag, fühlte sich angenehm warm an. Und wenn sie den Kopf ein wenig drehte, berührte ihre Nase fast die nackte Haut seines Armes. Fast nur – aber sie stellte fest, dass sie ihn gut riechen konnte. Als sie dann noch spürte, dass Rob seine Nase in ihre Haare grub und tief einatmete, merkte sie plötzlich, wie ihr am gesamten Körper heiß wurde. Das hatte allerdings rein gar nichts mit der Außentemperatur zu tun.
Verlegen versuchte sie, sich aus seinem Arm zu lösen. »Wollen wir wieder zurückgehen?«, fragte sie zaghaft. »Vielleicht können wir ja noch mal hierherkommen.«
Rob räusperte sich mehrmals, bevor er antwortete. »Ja, ich merke auch gerade, dass du frierst. Versprich mir nur, dass du niemals alleine versuchst hierherzukommen. Du kannst dich hier prima verlaufen. Die Chance, dass wir dich dann hier in dem Labyrinth-System wiederfinden, dürfte ziemlich klein sein. – Versprochen?«, setzte er hinzu, weil Charlotta nicht reagierte.
»Okay«, sagte sie heiser. Sie stand noch immer unter dem Eindruck des gerade Gesehenen – außerdem fühlte sie sich gefangen in dem angenehmen und, weil es fremd war, etwas unheimlichen Gefühl, das sich in Robs unmittelbarer Nähe in ihr breitgemacht hatte. Sie glaubte, seine Körperwärme noch immer an ihrem Rücken zu spüren und auch dort, wo sein Arm gelegen hatte.
Draußen empfing sie helles Sonnenlicht. Sie mussten beide eine Weile blinzeln, bis ihre Augen sich wieder daran gewöhnt hatten. Dann folgte Charlotta ihrem Fremdenführer den schmalen Felsweg hinab, zurück in den Wald.
Rob sprach kein Wort. Unten angekommen, wandte er sich nicht in die Richtung, aus der sie gekommen waren, sondern in die entgegengesetzte. Nach nur wenigen Metern kamen sie wieder an den kleinen Fluss, was Charlottas Verdacht, dass sie sich dem Felsen diesmal von der anderen Seite näherten, zu bestätigen schien.
Sie setzten sich neben dem Felsen ins Gras. Der Stein reflektierte die Wärme der Sonne, was Charlotta nicht zuletzt ihrer Gänsehaut wegen als angenehm empfand.
Auf der anderen Seite saß Rob, sie schauten beide stumm auf den Fluss. Sie hatte das Gefühl, dass auch er, ähnlich wie der Stein, Wärme abstrahlte. Nur, dass er kein Stein war, sondern ein Mensch aus Fleisch und Blut. Ein Mann. Ein sehr attraktiver Mann sogar.
Du liebe Güte, Lotta! Was ist mit dir los? Du kennst ihn kaum, und ob du glauben willst, dass er tatsächlich Mr. Right ist, weißt du noch nicht mal. Mach jetzt keine Dummheiten. Für spontane und unüberlegte hormongesteuerte Aktionen bist du schon ein paar Jahre zu alt!
Allerdings waren ihre Hormone und Rob erstens in der Überzahl und zweitens anderer Meinung. Bevor sie zum Nachdenken kam, lag sie im Gras, und Rob beugte sich über sie. »Ich würde dich gerne noch ein bisschen mehr wärmen«, sagte er mit rauer Stimme und suchte ihren Blick.
»Mehr wärmen?«, fragte sie mit zitternder Stimme, nur um überhaupt etwas zu sagen.
»Ja, noch viel mehr«, kündigte er an, und im nächsten Augenblick spürte sie seine Lippen auf ihren.
Uah … wow … er fühlt sich gut an. Er riecht so gut. Die Lippen, die Hände … nein … oh ja … gut … so gut …
Winzige Gedankensplitter, die ihr durch den Kopf schossen. Bruchstückhaft. Schnell. Sie schossen von allen Seiten und durch den ganzen Körper – nicht nur die Gedanken. Aus ihrem Mund kam nur ein leises Aufstöhnen. Das wiederum schien Rob weniger zu irritieren, als vielmehr zu ermutigen. Sie spürte seine Lippen wieder auf ihren und seine Hand, die sich einen Weg unter ihr T-Shirt bahnte und merkte, dass ihr Körper augenblicklich auf ihn reagierte. Gleichzeitig nahm sie wahr, wie der Stoff ihrer Jeans hart in ihren Schritt gedrückt wurde, was sie erneut aufstöhnen ließ. Sie spürte ihn überall gleichzeitig. Wie viele Hände hatte dieser Mann?
Das Nächste was Charlotta sich fragte, war, weshalb sie nicht eine Sekunde lang ernsthaft versucht hatte, ihm Einhalt zu gebieten. Am Tag zuvor noch fand sie es für einen Kuss ›zu früh‹ und nun …? Sie lag im Gras, den Kopf auf Robs Schulter gebettet, von seinem Arm warm umfasst und glaubte, außer der Sonne auch seine Hände noch immer auf ihrer nackten Haut zu spüren. »Wenn ich noch Zweifel gehabt hätte«, sagte Rob leise in die Stille hinein, »wäre mir spätestens jetzt so was von klar, dass wir zusammengehören.«
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