Verwirrt sah Charlotta ihn an. Wieder einmal wurde Rob deutlich bewusst, dass er ihr Dinge, die für ihn seit allerfrühester Kindheit selbstverständlich waren, erst genau erklären musste. Und, zum ersten Mal in seinem Leben durfte er tatsächlich jemandem von außen etwas über sich, sein Dorf und dessen Bewohner erzählen. Da Charlotta von all diesen aus ihrer Sicht sonderbaren Dingen in seinem Leben nicht leicht zu überzeugen schien, musste er sich noch einmal um besonders genaue Erklärungen bemühen. »Ich vermute, dass er ’ne Schale mit Kräutern angezündet hat, als du bei ihm warst«, sagte er.
Charlotta nickte, und Rob sprach weiter. »Er macht das mit verschiedenen Kräutern für verschiedene Anlässe. Du hast bestimmt diesen Schrank mit den gefühlt zweitausend kleinen Schubladen gesehen. In jeder Lade ist etwas anderes. Kein Wunder, dass es lange braucht, das zu lernen.«
»Er hat mir gestern was von zwanzig Jahren oder so erzählt.«
»Das stimmt! Bei meinem Bruder Marc hat er sogar schon sehr früh von den alten Geistern unserer Ahnen erfahren, dass er der nächste Pisap Inua sein wird. Deswegen hat er Marc mit zehn Jahren bereits regelmäßig zu sich geholt, um ihm sein Wissen zu vermitteln. Mein Bruder macht das auch mit einer Hingabe, dass wir uns alle sicher sind, dass er wirklich dafür ausersehen ist.« Charlotta nickte langsam.
»Jetzt muss ich noch mal einen kleinen Bogen spannen: Wenn irgendetwas Wichtiges anliegt, zum Beispiel ein Treffen, bei dem wir in der Verbundenheit mit den alten Geistern, den gern ingem , sehen, was für uns und unser Zusammenleben wichtig ist, eine Gefahr, eine Jagd … oder so etwas, dann versammeln wir uns alle bei ihm. Wenn er seine Kräuter anzündet, ist es wichtig, auf die richtige Art und Weise zu atmen. Das wirst du vermutlich nicht auf Anhieb können, wir haben es von frühester Kindheit an gelernt. Das Atmen ist bei uns sowieso und grundsätzlich eine ganz wichtige Geschichte«, schlug er doch noch mal einen weiteren Bogen. »Weißt du, mit deinem Atem kannst du ganz viel beeinflussen. Tief durchzuatmen, beispielsweise, kennst du sicherlich auch, um ruhiger zu werden, wenn du dich mal aufgeregt hast.«
Charlotta nickte. »Ja, ich weiß. Sobald man bewusst tief in den Bauch atmet, bekommt auch das Blut im unteren Teil der Lunge, das dort der Schwerkraft wegen sitzt, so viel Sauerstoff, dass es dann entsprechend angereichert wieder in den Kreislauf kommt. Dieses Mehr an Sauerstoff lässt einen dann ruhiger und konzentrierter werden – so wie man im Gegensatz dazu bei kurzen hektischen Atemstößen unruhiger wird und im Ernstfall hyperventiliert«, dozierte sie, ganz die Krankenschwester.
Schmunzelnd ergänzte Rob: »Und genau dieses tiefe Atmen nutzen wir hier immer wieder und ganz bewusst. Wir konzentrieren uns mit ruhiger Atmung, die manchmal etwas Meditatives hat. Wenn wir als Kinder Angst hatten, haben meine Eltern oder der Pisap Inua uns immer aufgefordert, mit ihnen im gleichen Rhythmus zu atmen. Du glaubst nicht, wie sehr das beruhigen kann. Außerdem bekommst du etwas Abstand zu dem, was dir Angst eingejagt oder dich beunruhigt hat. Du konzentrierst dich darauf, dich mit deinem Atem dem anderen anzupassen und das verbindet – vor allem, wenn dich dabei jemand in den Arm nimmt.« Ihrem skeptischen Gesichtsausdruck nach zu urteilen, versuchte Charlotta gerade, sich das bildlich vorzustellen und Rob grinste.
»So ähnlich ist das auch, wenn wir uns alle beim Pisap Inua versammeln und er die Kräuter in seiner Schale anzündet. Du musst versuchen, richtig zu atmen. Du konzentrierst dich dabei auf den Rauch, aber auch auf die anderen. Wenn du erst ein bisschen von dem Rauch eingeatmet hast, wirst du viel bewusster wahrnehmen, wie die anderen atmen und dich ihnen ganz automatisch anpassen.«
Charlottas Atem veränderte sich, als probiere sie ein anderes Atmen aus. Daher wartete Rob einen Augenblick, bevor er mit seinen Erklärungen fortfuhr. »Und jetzt noch mal zurück zur Kommunikation in der Trance. Wenn wir dann also alle den rituellen Rauch in uns aufgenommen haben, spricht der Pisap Inua durch seine Gedanken mit uns. Das funktioniert in unserer Gestalt als Mensch, aber auch, wenn wir als Wölfe Eulen, oder Raben unterwegs sind. Und das geht, je nachdem, für welche Form von Trance er sich über die Auswahl der Kräuter entschieden hat, sowohl in die eine als auch in die andere Richtung. So sind wir immer über alles, was die anderen sehen und erleben, informiert.«
»Aber der Pisap Inua kann doch nicht gleichzeitig die Ansagen aller Leute in sich aufnehmen, sie verstehen, sie auseinanderdividieren, sie …«
»Doch, das kann er.«
»Oh! Mhm …« Charlotta schwirrte der Kopf. Sie schwieg, während Rob sie geduldig beobachtete. »Ähm … ich würde gerne noch mal auf das Partnerfinden im Dorf zurückkommen … weil … ich kann mir vorstellen, dass es vielleicht die eine oder andere Frau geben mag, die sich Hoffnungen gemacht hat. Also, dass sie die Auserwählte für dich ist, meine ich. Vor allem wenn ihr nicht allzu eng miteinander verwandt seid.«
»Gibt es einen besonderen Grund für dein Interesse?«
»Na ja«, sagte Charlotta verlegen und zog entschuldigend die Schultern hoch, »ich würde sehr gerne vermeiden, mich hier mit irgendwelchen Konkurrentinnen auseinandersetzen zu müssen. Ich …«
»Nele hat geplaudert, ja?«
»Mhm …« Sie merkte, dass ihr allein der Gedanke, mit einer Frau zusammenzustoßen, mit der Rob bereits intim gewesen war, überraschend unangenehm war. Allein schon, dass er eine andere Frau nur küsste, so, wie er sie selbst am Tag zuvor geküsst hatte, dort auf der Wiese am Fluss, behagte ihr nicht.
»Tja, es mag vielleicht wirklich … eine Frau geben, die gehofft hat, dass … nicht du die Auserwählte bist.« Charlotta merkte, dass er ihr auswich.
»Gibt’s das denn, dass euer Schamane für jemanden gar nicht die oder den Richtigen findet und man sich dann den Partner frei wählen kann?«
»Ja klar!«
»Warum hast du das nicht getan, sondern darauf gewartet, dass Ralph und ich uns trennen. Ich meine, es hätte ja durchaus sein können, dass wir zusammenbleiben und ich dann irgendwann so mit einhundertundfünf Jahren an Altersschwäche sterbe.«
Rob grinste schief. »Der Pisap Inua hat mich davon überzeugen können, dass es für mich sehr wohl die eine bestimmte Frau gibt. Und auch, dass ich der nicht nur aus der Ferne beim Altwerden zugucken muss. Dann blieb mir nichts anderes übrig, dann musste ich warten.«
»Womit?«, platzte Charlotta heraus, ohne vorher nachgedacht zu haben.
Rob zog irritiert die Stirn kraus. »Was meinst du?«
»Ach, nichts. Sag mir, was machst du beruflich?«
»Nee, nee, nee, meine Liebe«, lachte Rob. »Alleine schon weil du so verlegen aussiehst und so abrupt das Thema wechselst, möchte ich wissen, was du gemeint hast.«
»Ach Quatsch! Ich habe nicht … ich weiß gar nicht mehr, was ich wollte. Ich …«
Schweigen. Rob wartete, und Charlotta hoffte, dass er von einer Antwort absehen würde. Das Bild, dass Rob eine fremde Frau im Arm hielt, hatte sie zu dieser unbedachten Frage veranlasst. Wie peinlich ist das denn?
»Charlotta?«
Charlotta schwieg und mied Robs Blick. Als habe sie noch nie Milch in ihrem Kaffee gesehen, schaute sie intensiv in ihre Tasse und wagte nicht, aufzusehen.
»Vermutlich hast du es noch nicht mitbekommen, aber ich kann ziemlich hartnäckig sein. Vielleicht rekapituliere ich einfach noch mal, damit dir doch wieder einfällt, was du wissen wolltest. Ich glaube, wir sprachen darüber, dass ich irgendwann einsehen musste, dass es doch eine für mich vorbestimmte Frau gibt und ich deshalb warten musste. Und war deine Frage nicht ›womit‹?«
»Mhm … kann wohl sein … ich meinte wohl ›worauf‹ …«, murmelte Charlotta. Als ihr das Schweigen zu unangenehm wurde, sah sie auf und begegnete Robs amüsiertem Blick. »Na ja, das kann man doch … also das mit dem Warten … Ach, Rob, lass es doch gut sein!«, bat sie ungeduldig und leicht verzweifelt.
Читать дальше