»Du hast gerade schon einmal von einer Gabe gesprochen. Was meinst du? Und dann was von Spannung …«
Unter dem prüfenden Blick des Alten wurde sie verlegen. Unsicher griff sie nach ihrer Teetasse. Der Tee schien nun kühl genug, und sie nahm einen kleinen Schluck. Es schmeckte etwas süßlich, etwas bitter … nichts was sie regelmäßig trinken wollte, aber so schlimm wie bei dem Gedanken an Kräutertee befürchtet, war’s nun auch nicht.
»In deinem Leben hat es anscheinend viele schwierige Situationen gegeben. Situationen, die anstrengend für dich waren. Ungesund. Die dich gestresst oder nahezu erdrückt haben. Trauer … Wut … Du trägst auch aktuell noch irgendeine schwere Last und viel Zorn in dir, die du aber noch nicht gefunden hast, um dich ihr zu stellen. Es mag außerdem noch mehr geben; aber um das alles herauszubekommen, brauche ich noch viel mehr Zeit. Es scheint nur so, dass diese Situationen dafür gesorgt haben, dass dein Körper unter einer ungeheuren Anspannung steht. Deine Schultern hast du permanent ein bisschen hochgezogen. Du läufst in einer scheinbar ausgleichenden Schonhaltung, die für deinen gesamten Körper nicht gut ist. Und in dir drin sind die Spannungen und Verhärtungen noch viel intensiver. – Was, Charlotta, hast du erlebt, gegen das du dich innerlich so entsetzlich verhärten musstest?«
Bestürzt sah Charlotta den Pisap Inua an. Sie merkte, dass ihr die Luft wegblieb. Hastig sprang sie auf und lief zum Fenster, um es zu öffnen. Alle Versuche, tief einzuatmen, schlugen fehl, weshalb sie immer mehr in Panik geriet.
Die junge Frau hatte ihn nicht kommen hören, doch plötzlich spürte sie die Hände des alten Mannes auf ihren Schultern. Er ließ die Hände einfach nur bewegungslos dort liegen, und doch hatte Charlotta das Gefühl, dass sie etwas ruhiger wurde und die Atemluft wieder bis in ihre Lungen gelangte.
»Bitte … das ist gerade alles ein bisschen viel für mich …«, stammelte sie und drehte sich zu ihm um. »Ich würde gerne … gehen … Ich …«
Das Gesicht des Pisap Inua verzog sich zu einem Lächeln – er sah immer noch einen Rest der Panik in ihren Augen. »Ja, tu das. Verzeih einem alten Mann seine Ungeduld. Du bist eine echte Herausforderung für mich. Ich hoffe nur, dass ich dich nicht zu sehr verängstigt habe. Bitte gib dir die Chance und komm wieder, wenn du glaubst, es ertragen zu können. Mein Haus steht immer offen für dich. – Und das gilt für alle Bereiche.« Sein Lächeln vertiefte sich. »Rob ist nicht immer einfach. Er hat lange ohne eine wirklich feste Bindung allein gelebt. Wenn ihr mehr Zeit und Abstand braucht, um euch kennenzulernen, kannst du gern zwischendurch zu mir kommen.«
Schon an der Haustür fiel Charlotta ein, dass sie sich nicht zum Abschied vor dem alten Mann verbeugt hatte. Sie spielte deshalb ernsthaft mit dem Gedanken, noch einmal zurückzukehren. Doch dann zuckte sie kurz mit den Achseln und öffnete die Tür nach draußen.
Unten an der Treppe angelangt, versuchte sie sich zu erinnern, wo Robs Haus lag. Im dritten Ring, so viel wusste sie noch, aber der war nicht klein.
»Verlaufen?«
Erschrocken fuhr Charlotta herum. Hinter ihr stand eine hübsche Frau in ihrem Alter und lächelte sie freundlich an. Ihre kurzgeschnittenen hellblonden Haare standen in alle Himmelsrichtungen ab, was ihr etwas Freches gab.
»Ja, wenn ich ehrlich bin, habe ich die Orientierung verloren. Ich suche …«
»Lass mich raten: Du suchst Rob!« Sie lachte, und die strahlend blauen Augen blitzten. »Es ist ja nicht so, als hätten wir dich nicht alle schon lange erwartet. Deine Ankunft gestern ging wie ein Lauffeuer durchs Dorf.« Sie schien einen Augenblick zu überlegen und hatte sich dann offensichtlich zu einem Entschluss durchgerungen. »Ich möchte dir keine Angst einjagen, aber nicht alle hier im Dorf haben dich mit der gleichen Sehnsucht und Vorfreude erwartet wie andere. Na ja, sagen wir’s mal so«, fühlte sie sich aufgrund Charlottas entsetzten Blicks genötigt, deutlicher zu werden, »Rob ist ein attraktiver Mann. Es haben sich sicherlich auch andere Frauen gewünscht, die Auserwählte zu sein.« Sie lachte wieder. »Ich bin glücklich und in festen Händen, vor mir brauchst du keine Angst zu haben. Wir werden uns sicherlich bald wiedersehen und uns ein bisschen unterhalten können. Rob kenne ich schon ewig, mag ihn sehr und finde es schön, dass du die Richtige für ihn bist. Komm mit mir mit.«
Etwas unsicher folgte Charlotta ihr stumm und erkannte dann auch bald, dass die junge Frau sie zum richtigen Haus führte. Als hätte er sie gehört, öffnete Rob die Tür. »Danke, Nele, das ist nett von dir!«
»Klar doch, macht’s gut, ihr beiden.«
Unter dem Blick Neles wurde Charlotta rot, und sie wandte sich ab. Doch in Robs Gesicht zu sehen, machte sie nicht weniger verlegen. Es war ein Fehler! Ich hätte das Angebot des Schamanen annehmen sollen, bei ihm zu wohnen. Oder besser noch, ich hätte nach Hause fahren müssen. Mir macht das Ganze Angst.
Rob schien von ihrer Unsicherheit nichts zu bemerken. Er legte sanft den Arm um ihre Schultern und zog sie mit sich ins Haus. »Komm, ich zeige dir, wo du schlafen kannst. Ich weiß, dass es eigentlich noch etwas früh ist. Aber ich befürchte, wir haben dich heute ein bisschen überfordert. Du wirst müde sein. Mhm?«
Hilflos nickte Charlotta und folgte ihm in ein geräumiges Schlafzimmer. Zu ihrer großen Erleichterung entdeckte sie ein breites, aber nur für eine Person bezogenes Bett, und außer einem Koffer, den sie als den ihren erkannte, sah sie keine persönlichen Gegenstände. Das war nicht Robs Schlafzimmer. Sie wollte sich bei ihm bedanken, doch im gleichen Augenblick drückte er ihr einen sanften Kuss auf die Stirn.
»Schlaf gut«, sagte er leise.
Die Sonne schien durchs Fenster, als Charlotta die Augen aufschlug. Sie sah sich verwirrt um und ihr fiel wieder ein, was am vorherigen Tag passiert war. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, sich ausgezogen zu haben. Aufgrund des unangenehmen Gefühls im Mund schien sie aber keine Energie mehr gehabt zu haben, ihre Zähne zu putzen. Seufzend kämpfte sie sich aus den Kissen hoch.
Vorsichtig öffnete sie die Tür und trat in den riesigen Wohnraum; er war leer. Sie erinnerte sich, dass sich die Badezimmertür gegenüber vom Eingang befand und verschwand erst einmal dort, lief erneut in das Zimmer, holte Wäsche aus ihrem Koffer und kehrte ins Bad zurück.
Frisch geduscht und sauber gekleidet, machte Charlotta sich auf den Weg, Rob zu finden. Ein Blick auf die Uhr ließ sie vermuten, dass Rob noch schlief und sie nicht gehört hatte, als sie im Bad herumrumorte. In dem großen offenen Wohnbereich fand sie ihn nicht, nach ihm zu rufen, traute sie sich nicht und in eins der anderen Zimmer zu gehen, erst recht nicht. Sie wollte ihn keinesfalls wecken. Deshalb verwarf sie ihre Idee, ihn zu suchen, direkt wieder und beschloss, sich ein wenig umzusehen.
Eine Menge CDs standen im Regal, allerdings weitestgehend von Künstlern, deren Namen sie noch nie gehört hatte. Okay, zwischen seinem und ihrem Musikgeschmack lagen Welten – anders wäre es aber auch kein Garant für eine erfolgreiche Beziehung, wenn sie mal an Ralph dachte.
Bücher. Vor allem Reisebeschreibungen, Naturfotografien. ›Natur und Lebensräume‹ – diese Zeitschriftenreihe hatte ihr Vater auch gerne gelesen. Von ›Natur und Lebensräume‹ schien schon seit seiner Geburt ein Abonnement zu bestehen. Einige Exemplare existierten sogar in fremden Sprachen. Ob Rob so viele Sprachen beherrschte? Was machte er überhaupt beruflich?
»Suchst du etwas Bestimmtes?«
Mit einem Aufschrei fuhr Charlotta herum. »Wieso schleichst du dich so an? Ich hab dich gar nicht gehört!«, fuhr sie ihn an.
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