»Doch, du hast was anzuziehen«, sagte er und hatte den Anstand auszusehen, als habe er so etwas wie ein schlechtes Gewissen. »Ich habe keine Ahnung, ob ich nun gerade deine Lieblingsjeans erwischt habe. Aber ich habe mir erlaubt, ein paar Sachen aus deinem Schlafzimmerschrank mitzunehmen.«
»Du hast waaas?«
»Bitte, Lotta! Wenn du gehen willst, kann ich dich nicht festhalten. Das ist mir klar. Nur – fehlende Wäsche sollte zum Beispiel kein Hinderungsgrund sein, vielleicht doch hierzubleiben. Und was das Übernachten angeht … da … mhm … da gibt’s verschiedene Möglichkeiten.« Charlottas hochgezogene Augenbraue veranlasste ihn, noch etwas deutlicher zu werden: »Ja, du kannst selbstverständlich und sehr gerne bei mir übernachten. Und auch das muss nicht bedeuten, dass du bei mir im Bett schlafen musst. Wenn es dir unangenehm ist auch nur in einem Haus mit mir zu schlafen, kannst du bei unserem Schamanen bleiben. Also in dem Haus, in dem du heute Mittag aufgewacht bist. Oder bei meinem Bruder Paul und seiner Frau.«
»Paul? Der Paul?«
Rob seufzte. »Ja, genau der Paul, er ist auch ein Wolf. Eigentlich ist er ein netter Kerl. Er ist zwölf Jahre älter als ich. Schon als ich noch ein Kind war, hat er sich oft als Erzieher und Bestimmer aufgespielt. Er hat uns Geschwister geärgert und uns auch gerne mal blamiert, wo sich ’ne Gelegenheit bot. Auf der anderen Seite konnte man sich aber auch immer auf ihn verlassen, wenn von meinen anderen Geschwistern und mir jemand Hilfe brauchte.«
Schweigen.
»Wo sind denn meine Klamotten?« Zaghaft.
»Die sind bei mir.« Rob schwieg und sah Charlotta erwartungsvoll an.
»Du hast also noch ein Gästezimmer?« Noch zaghafter.
Er nickte. Das war fast mehr, als er erwartet hatte. Seine große Befürchtung, dass sie zu erschrocken oder zu wütend sein würde, um seine Einladung anzunehmen hatte sich nicht bewahrheitet. Mit ziemlicher Sicherheit würde sie darauf bestehen, nach Hause gebracht zu werden. Er wollte aber unbedingt, dass sie bei ihm blieb – und danach sah es gerade aus. Allerdings hatte Rob sich sicherheitshalber um andere Alternativen bemüht.
Rob drehte ihr den Rücken zu und bückte sich nach seinen Schuhen. Charlotta wusste nicht, weshalb ihr bei der Ansicht, die er ihr bot, der Gedanke durch den Kopf schoss, dass er unter der Jeans nun vermutlich keine Unterhose mehr trug. Nachdem Rob sich wieder zu ihr umgewandt hatte, zog er beim Anblick ihres feuerroten Gesichts fragend die Augenbrauen hoch. Doch Charlotta schlug lediglich die Augen nieder, weshalb er mit den Schultern zuckte. Nebeneinander schlenderten sie zurück ins Dorf.
Jetzt sah Charlotta sich die Häuser noch einmal genauer an. Sie waren ausschließlich aus Holz gebaut, eher Blockhäuser. So stellte sie sich ein Dorf in den Gründerjahren der USA oder Kanadas vor. Das mit Abstand größte Haus gehörte dem Schamanen. Keins der anderen Häuser wies eine Treppe oder eine Doppeltür als Eingang auf. Auch die übrige Größe des Gebäudes konnte sich sehen lassen.
»Das ist auch das Gemeinschafts-, Versammlungs- und Gemeindehaus«, erklärte Rob, der in die gleiche Richtung schaute wie sie. »Hier werden zum Beispiel Versammlungen abgehalten oder größere Feste, wenn wir sie nicht draußen feiern können.« Zielsicher steuerte er auf eins der kleineren Häuser zu, das von dem großen Platz aus gesehen in der dritten Reihe stand.
Interessiert wandte Charlotta sich noch einmal um. Direkt an dem festgetretenen Platz standen die ältesten und zumeist auch größeren Gebäude. Sie bewunderte die häufig kunstvoll geschnitzten Eckbalken und Haustüren. Die Häuser im zweiten Ring schienen etwas kleiner und jünger und im dritten Ring standen die neuesten Häuser. Wie auch in den ersten beiden Reihen, wiesen die Türen zur Dorfmitte hin. Von ihrem Standpunkt aus konnte sie jedoch nur auf die Rückseiten der Gebäude vor ihnen schauen, die den Dorfplatz vor ihren Augen verbargen.
Charlotta hätte es niemals zugegeben, aber sie war ungeheuer gespannt zu sehen, wie Rob lebte. Als er die unverschlossene Tür öffnete und ihr den Vortritt ließ, bemerkte sie, dass er ähnlich nervös zu sein schien, wie sie.
Sie trat direkt in einen großen Raum, der Möblierung nach zugleich Küche und auch Wohn- und Esszimmer. Es gingen noch vier weitere Türen davon ab, von denen vermutlich eins ein Badezimmer sein würde, eins das Schlafzimmer von Rob und eins dann vermutlich das bereits erwähnte Gästezimmer. Vielleicht besaß er auch zwei Gästezimmer. Sie drehte sich einmal um die eigene Achse und lächelte Rob dann an. »Gemütlich hast du’s!«
Robs stolzes Lächeln verwandelte sich in eine misstrauische Miene, als er einen Zettel auf seinem Tisch entdeckte. Mit für Charlottas Augen überraschend schnellen Schritten war er dort und las ihn, ohne ihn anzufassen. Dann entspannten sich seine Schultern wieder. »Du möchtest bitte gleich noch mal zum Pisap Inua, unserem Schamanen, kommen.«
Plötzlich knurrte Charlottas Magen so laut, dass Rob sich belustigt zu ihr umwandte. »Wie spät haben wir’s eigentlich?«, wollte sie verlegen wissen.
»Es ist bereits Nachmittag. Du hast dann vermutlich seit mindestens vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen. Was ist? Soll ich eben lossprinten und ein Reh für dich jagen?« Sein Grinsen veranlasste Charlotta, ihre entsetzte Bemerkung herunterzuschlucken. »Nein, kleiner Scherz«, beruhigte er sie trotzdem noch und konnte erkennen, wie das Misstrauen nur langsam aus ihrem Gesicht wich. »Wir können jetzt gemeinsam zum Schamanen rübergehen, er hat was zu essen für uns beide. Danach würde ich dich bei ihm lassen.«
Rob wandte sich wieder zur Tür und sah Charlotta fragend an, die noch mitten im Raum stand. Verlegen erwiderte sie seinen Blick. »Ich würde gerne mal … wo hast du …?«
»Ach so, das Bad ist genau gegenüber von der Haustür. Ich warte draußen auf dich.«
Wenngleich die Häuser von außen eher einfach wirkten, entdeckte sie ein überraschend modern eingerichtetes Badezimmer. Auf jeden Fall kein Plumpsklo , dachte Charlotta erleichtert und schämte sich sofort ihres Gedankens. Dann fiel ihr ein, dass sie dieses Gefühl bei dem alten Mann nicht gehabt hatte. Allerdings wusste sie da auch noch nicht, in was für einem seltsamen Dorf sie gelandet war. Robs Bad sah erheblich moderner aus als das des alten Mannes.
Während sie sich die Hände wusch, kam ihr der Gedanke, dass das Ganze ja auch von irgendetwas bezahlt werden musste. Was – außer Wolf zu sein – machte Rob? Beruflich. Und ein weiterer Gedanke kam ihr … worum handelte es sich bei einem Pisa … Pisap Inua? Und … ein Schamane? Sie spürte, dass sich ihre Verwirrung trotz aller Erklärungsversuche Robs immer mehr steigerte.
Draußen fand sie Rob mit einem blonden Mann im Gespräch. Der andere Mann sah sie zuerst und kam mit ausgestrecktem Arm auf sie zu. »Herzlich willkommen. Tut mir leid, dass ich dich neulich so erschreckt habe.« Er schüttelte ihre Hand und hielt sie noch einen Augenblick länger fest, während er sie ansah.
Charlottas verständnislosen Blick beantwortete er grinsend mit »Ich bin Paul.«
»Oh! Ach so! Ja, das war gemein.« Sie nickte Paul kurz zu, entzog ihm ihre Hand, und während sie sich noch umwandte, sah sie, dass sie ihn mit ihrer Antwort überrascht hatte. Rob grinste und wandte sich zum großen Haus am Dorfplatz.
Aus den Augenwinkeln sah Rob zu der jungen Frau, die nachdenklich und in Gedanken versunken neben ihm herlief. Ja, es stürzte gerade eine ganze Menge auf sie ein. Es erleichterte ihn ungemein, zu merken, dass sie nicht zusammenbrach, sondern zwar vorsichtig und ein wenig ängstlich, aber doch neugierig mit ihm und allem Neuen umging, was er ihr bot.
Den Raum, in dem sie sich an einen bereits gedeckten Tisch setzten, empfand Charlotta als kleiner und gemütlicher als den, in dem sie vor wenigen Stunden aufgewacht war. Das Essen war einfach, aber sehr schmackhaft – vor allem Dinge, die man saisonal bedingt gerade in Gemüsegärten fand. Es gab tatsächlich Reh. Charlotta traute sich jedoch nicht zu fragen, ob ein Wolf es gerissen hatte. Sie wollte es genaugenommen auch gar nicht wissen.
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