»Kannst du dich wieder umdrehen?«
Das ging diesmal besser. Jetzt konnte sie den alten Mann ansehen und stellte verblüfft fest, dass sie keine Angst hatte. Weder vor dem Mann, noch der Situation als solcher. Auch nicht davor, dass er etwas falsch machen und sie anschließend querschnittsgelähmt sein könnte. Er strahlte Ruhe und Vertrauen aus.
Sie spürte die Wärme seiner Hände nun auf ihrem Bauch, wobei sie verblüfft feststellte, dass er sie gar nicht wirklich berührte. Seine Hände schwebten wenige Zentimeter über ihrem T-Shirt. Hatte er ihre Wirbelsäule auch nicht berührt? Oder erst in dem Moment, als er die Wirbel wieder in die richtige Position gerückt hatte? Während sie noch darüber sinnierte, blieben seine Hände über ihrem Magen stehen. Sie berührten sie noch immer nicht, verharrten aber starr.
Die Wärme breitete sich aus. Sie wurde intensiver.
Charlotta schloss sie Augen. »Gut so«, hörte sie ihn leise sagen. »Atme zu der Wärme hin. Versuch es.«
»Es tut weh«, flüsterte sie.
»Das ist gut!«
Das fand Charlotta gar nicht, aber sie traute sich nicht, ihm das zu sagen. Es wurde langsam aber sicher unerträglich.
»Ist es ein guter Schmerz?«
»Nein, es tut nur weh. Und das zieht überall hin«, stieß sie gepresst hervor.
»Dann lassen wir es für heute gut sein. Guck mal, ob du mit deinem Rücken so jetzt aufstehen kannst.« Der alte Mann trat einen Schritt zurück.
Vorsichtig setzte Charlotta sich auf. Es schmerzte, aber es war machbar.
Nun erst schaute sie sich um. Sie befand sich in einem großen Raum, dessen lange, den Fenstern gegenüberliegende Wand, fast komplett von einem riesigen Bücherregal eingenommen wurde. Bücher über Bücher. Die Pritsche, auf der sie saß, ähnelte auffällig denen, die Krankengymnasten oder Ärzte benutzten. Sie war nur viel breiter und stand unter einem der Fenster, damit genügend Tageslicht den Bereich erhellen konnte.
Schräg zu einem der Fenster stand ein wuchtiger Schreibtisch aus dunklem Holz. Darauf lagen mehrere hohe Papier- und Zeitschriftenstapel, fein säuberlich aufgeschichtet. Viele kleine Tische und Regale konnte sie erkennen. Eine Sitzecke mit derben Ledermöbeln und einem weiteren niedrigen Tisch, auf dem sie mehrere Tassen entdeckte. Die Tische, die Regale, die Wände … alles war belegt und bedeckt mit Gegenständen, die ihr auf den ersten Blick zumeist fremd erschienen. Selbst von der Decke hingen Sachen herunter. Ein Schrank, der Charlotta etwa bis zur Schulter ging und unzählige kleine Schubladen hatte, erregte ihr Interesse.
Plötzlich wurde ihr bewusst, dass man ihre neugierigen Blicke auch unhöflich finden könnte. Schuldbewusst sah sie den alten Mann an. Der schien sie nicht eine Sekunde aus den Augen gelassen zu haben. Doch sein Gesichtsausdruck wirkte nicht missbilligend, sondern weiterhin freundlich und zugewandt.
»Weshalb bin ich hier?«, fragte Charlotta zaghaft.
Das Lächeln des Mannes vertiefte sich noch. »Es ist nicht an mir, dir das zu erklären.«
»Aber …«
»Weißt du, ich denke, es ist gut für deinen Rücken, wenn du dich jetzt ein bisschen bewegst und spazieren gehst. Hier kannst du weit laufen. Bei dem schönen Wetter ist es herrlich draußen. Vielleicht möchtest du dich erst ein wenig frisch machen?« Vorsichtig rutschte Charlotta von der Pritsche, machte ein paar steife Schritte und sah zögernd auf. Der seltsame alte Mann öffnete die Tür und wies auf eine weitere, hinter der Charlotta nach seinen Worten eine Toilette vermutete. Dankbar lief sie darauf zu.
Das Badezimmer sah aus, als sei es schon mehr als einhundert Jahre alt. Einen Wasserkasten, der hoch über der Toilette hing und bei dem man an der herabhängenden Kette ziehen musste, um abzuspülen, das hatte sie nur mal in einem alten Buch gesehen. Spannend! Aber alles wirkte sauber, ordentlich und für ihre Bedürfnisse absolut ausreichend. Als sie sich die Hände wusch, erblickte sie im Spiegel ein blasses Gesicht, umrahmt von wirren Haaren. Sie befeuchtete noch einmal ihre Hände und versuchte, ein bisschen was an ihrer Frisur zu retten. Schließlich ließ sie mit einem Seufzer fatalistisch die Arme sinken und begab sich wieder in den Flur.
Dort stand noch immer der hochbetagte Mann, der lächelnd auf die große Ausgangstür wies. »Entspann dich draußen ein bisschen und lerne die Umgebung kennen«, sagte er und sah sie auffordernd an.
Das war deutlich. Einen Augenblick zögerte sie noch. Aber er schien ihr noch immer nichts erklären zu wollen. Langsam lief sie weiter durch einen Hausflur und erkannte bei einem Blick zurück, dass er lediglich wieder lächelnd auf die doppelflügelige Ausgangstür deutete. Charlotta zögerte erneut. Die ganze Situation wirkte auf sie so unheimlich, und die einzige Sicherheit schien dieser Mann zu sein. Der alte Mann, der ihr aus ihrem Traum bekannt vorkam. Diesen geschützten Raum zu verlassen, machte ihr Angst. Sie sah ihn noch einmal mit einem hilflos-flehenden Blick an, doch er schien sie noch immer nicht zurückrufen zu wollen. Also drückte sie die Klinke herunter und stieß vorsichtig die Tür auf.
Draußen empfing sie heller Sonnenschein. Charlotta stand auf einer breiten hölzernen Treppe, die fünf Stufen hinab zu einem mit ungleichmäßig behauenen Steinplatten belegten Weg führte. Der Weg endete schließlich in einem großen Platz aus festgetretener Erde. Darauf befanden sich, ungleichmäßig verteilt, mehrere abgeflachte Steine und größere schwarze Flecke, als habe man hier Lagerfeuer angezündet.
Viel mehr interessierten Charlotta jedoch die Häuser, die den Platz kreisförmig umschlossen und es sah so aus, als stünden dahinter noch zwei weitere Reihen mit Häusern. Aus der Vogelperspektive mochte es aussehen wie eine Schießscheibe. Allerdings hätte der Scheibenspiegel lediglich drei Ringe statt der üblichen zehn. Hinter dem dritten Häuserring begann der Wald.
Sie sah außerdem ein paar Männer, Frauen und Kinder, die zwar neugierig zu ihr herübersahen, aber in dem was sie taten nicht innehielten, um sie unhöflich anzustarren. Was sie nicht sah, war auch nur einen einzigen Wolf, oder einen Hund.
Unsicher, wohin sie sich wenden sollte, stieg Charlotta die Treppe hinab. Dabei hielt sie sich wegen ihrer Rückenschmerzen am Geländer fest. Eine Bewegung, die sie aus dem Augenwinkel wahrnahm, ließ sie den Kopf nach rechts drehen.
Vor dem Haus stand neben der Treppe, von der Sonne in helles Licht getaucht, eine breite hölzerne Bank. Der Mann, der darauf gesessen hatte und sich soeben erhob, sah sie unsicher an. »Hi, wie geht’s dir?« Er hatte zumindest so viel Anstand, dass er verlegen wirkte.
Charlotta atmete hörbar aus. »Wieso nur bin ich nicht überrascht, dich hier zu sehen? – Rob, was passiert hier gerade? Mit mir!? Was hast du getan? Mit mir?!« Sie wunderte sich im Augenblick vor allem über sich selbst, dass sie so verhältnismäßig ruhig sprechen konnte und ihn nicht hysterisch mit dem nächstbesten Gegenstand verprügelte.
Rob sah sie unglücklich an. »Hat er dir schon was erklärt?« Mit dem Kopf deutete er zum Haus, um deutlich zu machen, wen er meinte.
»Er sagte, es sei nicht an ihm, mir was zu erklären.«
Ein unmissverständliches Seufzen kam als Antwort. »Das habe ich befürchtet.« Er senkte den Kopf. »Mhm … magst du bitte mit mir mitkommen? Ich möchte dir was … was zeigen und kann damit hoffentlich auch das meiste erklären.« Robs Stimme klang etwas resigniert, sein Blick wirkte bittend, fast schon flehentlich. Charlotta zögerte einen Augenblick, dann stieg sie die letzte Stufe hinab und sah Rob auffordernd an.
Sie liefen langsam am Rand des Platzes entlang und verließen die Ansammlung von Häusern nach etwa Hundert Metern. Mit jedem Schritt spürte Charlotta, wie sich die Verspannung in ihrem Rücken lockerte und weniger schmerzte. Ab und zu warf sie einen vorsichtigen Blick auf den Mann, der neben ihr herlief. Doch der hatte die Hände in den Hosentaschen vergraben, dabei den Blick auf den Boden geheftet und sah nicht auf. Charlotta knirschte vor Anspannung mit den Zähnen, sagte jedoch nichts.
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