Die Bluse. Sie hatte extra eine frisch gebügelte Bluse aus dem Schrank gezogen, nicht einfach nur ein T-Shirt. Warum? Um ihm zu gefallen? Dann hätte sie auch an ihre Haare denken müssen und daran, dass es nicht schlecht gewesen wäre, ihre Wimperntusche und gerne auch den Lippenstift noch einmal zu benutzen.
Ihr Blick wanderte über ihren Körper. Sie sah eine etwas pummelige junge Frau, die ihr mit einem Gesichtsausdruck entgegensah, als fühle sie sich nicht so recht wohl. Charlotta war nie richtig dick gewesen, aber leider auch nicht so schlank wie Sara und Angie.
Abrupt drehte sie sich um. › Eitelkeit ist die erste der sieben Todsünden‹ , glaubte sie die Stimme ihrer Mutter zu hören.
Ihre Mutter! Charlotta spürte, wie ihr die Brust eng wurde. Ihre Mutter, die ihr so viel Zeit ihres Lebens geraubt hatte – eigentlich immer schon und zuletzt noch mehr, um sich von ihr pflegen zu lassen. Das sei ihre Bestimmung als Tochter, hörte sie erneut die Anklage ihrer Mutter.
Da war sie wieder, die Bestimmung !
Wenn es die Bestimmung von Töchtern sein sollte, sich um egoistische anspruchsvolle Mütter zu kümmern, was hatte das Schicksal sonst noch für sie zu bieten? Konnte die Bestimmung auch Positives für sie bereithalten? Für sie war der Begriff ausschließlich mit Negativem behaftet.
Charlotta versuchte tief durchzuatmen, doch die Enge in der Brust blieb.
Um nicht den ganzen Abend an diese merkwürdigen Begegnungen mit Rob zu denken, griff Charlotta zum Telefon. Eine knappe Stunde Plauderei später hatte sie mit Sara geklärt, dass sie am Abend mit ihr und Angie gemeinsam in ihrer Wohnung etwas kochen wollte. Damit sie noch Zeit für den Einkauf hatte, sollte Sara Angie über den Plan informieren. Ansonsten könnte es durchaus passieren, dass das Telefonat noch einmal locker ein Stündchen in Anspruch nahm.
Der Juni war außergewöhnlich trocken und warm, ideal für laue Sommernächte auf der Terrasse. Die drei Freundinnen beschlossen, an dem winzigen Gartentisch, der dafür eigentlich viel zu klein war, zu essen und dann den Abend mit ein oder zwei Gläsern kaltem Weißwein draußen zu verbringen. Sara zündete sich nach dem Essen eine Zigarette an und freute sich, mal nicht allein an der frischen Luft stehen zu müssen, während die anderen sich drinnen weiter unterhielten.
»Na, was macht deine neue geheimnisvolle Bekanntschaft?« Mit einem leicht provokativen Grinsen sah Angie ihre Freundin an.
»Och!« Charlotta bemühte sich um einen unaufgeregten Ton und eine ruhige Stimme. »Der saß noch vor ein paar Stunden genau dort, wo du jetzt sitzt.«
»Waaaas?«, klang es synchron aus zwei Kehlen. »Los, erzähl! Warum war der hier? Wieso erzählst du das jetzt erst?«
Charlotta lachte. »Als ich heute von der Arbeit kam und zu meinem Auto wollte, hielt Horst mich auf.«
Auch Aufstöhnen ging synchron!
»Er wollte sich mit mir für den Krankenhausball verabreden.«
»Uuuuh!« Sara schüttelte sich, und auch Angie verzog das Gesicht.
»Ja, so ging’s mir auch. Ich hab ihm dann gesagt, dass ich gar nicht hingehe – was ich auch vorhabe. Es tut mir echt ein bisschen leid, weil das grundsätzlich sicher nett wäre. Aber wenn ich mir vorstelle … Nee, Mädels! Na ja, und dann wollte er wissen, warum ich nicht käme.«
Sie legte eine bedeutungsvolle Pause ein. Die beiden Freundinnen beugten sich instinktiv noch ein bisschen vor, die Augen auf Charlottas Lippen geheftet. »Und plötzlich höre ich ’ne Stimme hinter mir, die sagt, ich sei an dem Tag mit ihm verabredet.«
»Und das war ER?« Angie mochte es nicht glauben.
»Na, was denkst du denn? Chuck Norris?« Sara boxte ihr in die Rippen. »Und dann?«
»Dann hat er so getan, als hätten wir verabredet, dass er mich von der Arbeit abholt. Damit die Geschichte dann auch passte, ist er mit mir weggefahren. Und als ich gesagt habe, dass ich aber erst nach Hause wolle, um mich zu duschen, wollte er mit.«
»Duschen?« Angies Augen waren groß wie Untertassen.
»Neiiiin! Natürlich nicht! Nur in meine Wohnung. Und das habe ich dann auch gemacht, also ihn mitgenommen, meine ich. Während ich geduscht habe, hat er auf meiner Terrasse gesessen, und dann haben wir noch ein bisschen geplauscht …«
»Worüber denn?«, wollte Sara wissen.
»Ach, so ganz komisch über Schicksal und Bestimmung und Träume und … ach, ich weiß nicht. Nach ziemlich kurzer Zeit ist er aber auch schon wieder gegangen.«
»Hat er gesagt, dass er dich noch mal wiedersehen will?«
Charlotta wusste nicht, weshalb sich ihre Wangen röteten, als sie stumm nickte.
»Wow!«
»Geil!«
»Ich will den jetzt auch mal kennenlernen!«, flötete Angie.
»Ich habe ihn ja nur ganz kurz in dem Café gesehen, und dann vor allem von hinten. Aber als der an mir vorbeigegangen ist … Der sieht totaal süß aus.« Sara schnalzte genüsslich mit der Zunge.
Charlotta erinnerte sich plötzlich daran, dass offensichtlich außer den Wölfen auch Rob und Horst und Wer-weiß-wer-noch um ihre Wohnung herumschlichen. Darum bemühte sie sich, die Lautstärke des Gesprächs ein wenig zu dämpfen. Da sie gerade die dritte Flasche Weißwein entkorkte, erwies sich das als nicht ganz einfach. Aber Charlotta drohte damit, das Thema zu wechseln, wenn die beiden sich nicht ein bisschen mehr beherrschten.
»Wann hast du dich denn das nächste Mal mit ihm verabredet?«
»Gar nicht!« Charlotta füllte die Gläser wieder auf.
»Was? So eine Gelegenheit lässt du dir entgehen?« Angie war entrüstet. »Du wirst ihn aber anrufen!«
»Ich habe keine Telefonnummer von ihm!«
»Anfängerfehler!« Verzweifelt über Charlottas Dummheit rollte Sara mit den Augen.
»Nein, ich habe ihm sogar angeboten, ihm meine Nummer zu geben – aber irgendwie hat er abgelenkt, und dann war er auch schon weg.« Als sie es aussprach, spürte Charlotta, dass sich ein Gefühl der Beklemmung und Hilflosigkeit in ihrer Brust festsetzte. Ein Gefühl, als habe sie etwas Wichtiges verloren.
»Und nun? Wie willst du ihn wiederfinden?«
Charlotta zuckte, scheinbar gleichgültig, mit den Achseln. »Ich schätze, wenn er mich wiedersehen will, wird er mich wiederfinden. Der Mann ist so was von überzeugt von Schicksal und Ich-weiß-nicht-was … Wenn er meint, dass das Schicksal uns füreinander bestimmt hat, wird er sich melden. Dass ich ihn nicht erreichen kann, weiß er.«
»Und?«, sagte Sara ungewöhnlich ernst. » Willst du ihn wiedersehen?«
»Mhm … glaub schon …«
»Na, Begeisterung sieht anders aus«, lachte Angie.
»Nein, er ist … so ganz anders als die Männer, die ich bislang kennengelernt habe. Er hat … irgendwas … Ich kann’s nicht beschreiben. Auf jeden Fall hat er es geschafft mit seiner außergewöhnlichen Art so plötzlich aufzutauchen, dass er mich interessiert.«
»Interessiert«, wiederholte Angie tonlos. »Na, das ist bestimmt das, was er hören möchte: ›Hey Rob, ich glaube, du interessierst mich!‹« Sie kicherte albern.
»Angie, ich bin nicht die Frau, die sich spontan Hals über Kopf in einen Mann verliebt. Ich will mich nicht von jemandem abhängig machen. Also, so emotional auch, meine ich.«
Sara nickte verstehend. »Du stehst schon wieder ziemlich unter Stress, Süße, stimmt’s? Du bist total verspannt und drehst dich die ganze Zeit so komisch hin und her. Du hast auch schon wieder Atemprobleme, gib’s zu!«
»Na ja, wenn ich tief einatme … aber das kriege ich wieder hin.«
»Du solltest hurtig zu deinem Orthopäden damit, bevor sich das manifestiert. Wieder die alte Geschichte? Deine Mutter lässt dich auch nach ihrem Tod nicht los, was?«
»Immer, wenn ich daran zurückdenke … angeblich liegt’s am Zwerchfell, weil ich falsch atme. Ich habe sowieso bald wieder einen Termin beim Chiropraktiker.« Charlotta verstummte, denn all das hatte sie ihren Freundinnen schon häufiger erklärt, während diese ihr wiederum jedes Mal versicherten, dass sie ihrer Mutter keine schlechte Tochter gewesen sei. Ja, es stimmte, ihre Mutter ließ sie auch nach deren Tod nicht los. Aber die vorsichtigen Vorschläge ihrer Freundinnen, sich deshalb einen Psychotherapeuten zu suchen, wies sie jedes Mal weit von sich.
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