Sie zuckte mit den Schultern. »Was willst du wissen?« Sie gab sich lässiger als sie sich fühle.
»Ich wundere mich, dass so eine junge Frau wie du so verspannt ist. Und damit meine ich nicht nur deine Schultermuskulatur, sondern so ziemlich alles an und in dir. Was ist es, das dir so viel Druck macht?«
»Was wird das?«, fragte sie und kicherte nervös. »Eine Psychotherapie?«
Der alte Schamane lachte. Ein tiefes ruhiges Lachen, das von innen kam und den ganzen Körper schüttelte. »Das würde dir Angst machen?«, erkundigte er sich. Er wartete keine Antwort ab, beobachtete aber in den wenigen Sekunden, bis er weitersprach, genau Charlottas Reaktionen. »Nein, keine Psychotherapie. Aber trotzdem musst du wissen, dass der Körper nicht gesund sein kann, wenn die Seele nicht gesund ist.«
Die junge Frau, die ihm gegenüber saß, wirkte plötzlich nervös und schien sich in die Enge gedrängt zu fühlen. Er spürte, dass er bei ihr vorsichtig sein musste, damit sie sich nicht zurückzog. Im Gegensatz zu den Dorfbewohnern kannte sie ihn nicht. Sie vertraute ihm nicht so bedingungslos. Vor allem wusste sie nicht, was er alles Gutes zu tun vermochte, das über das, was Charlotta über schulmedizinische Behandlungen in ihrer Ausbildung gelernt hatte, weit hinausging. Er hoffte sehr, dass sie sich auf seinen Vorschlag einließ.
»Na ja«, sagte sie betont leichthin, »jeder hat doch so seine Leichen im Keller, oder?«
»Das ist keine Frage. Doch nicht jeden drücken die Leichen so nieder wie dich. Du versuchst mit deinen Schultern Dinge zu stemmen, die zu schwer für dich sind. Und deshalb möchte ich dir anbieten, dir zu helfen.«
»Was willst du denn mit meinen Leichen machen?«, fragte Charlotta leicht beklommen und versuchte ein Lachen.
»Sie endgültig begraben«, sagte der Schamane mit ernstem Gesicht. Dann schaute er sie wieder lächelnd an. »Es sieht so aus, als habe Rob dir etwas von der Gegend hier gezeigt, und es schien mir auch so, als wärt ihr euch nähergekommen.« Die einzige Emotion, die das Gesicht des hochbetagten Mannes zeigte, schien Freude darüber zu sein, sodass Charlotta zu ihrer eigenen Überraschung nicht einmal verlegen wurde. Sie wusste, dass der Schamane wusste, wie nah sie sich gekommen waren.
»Heute ist es schon zu spät dafür«, sagte er, »aber ich würde dich gerne morgen früh wiedersehen. Bis dahin möchte ich dir die Gelegenheit geben, dir zu überlegen, ob du erlaubst, dass ich dich in Trance versetze. Gemeinsam können wir versuchen zu ergründen, was so schwer auf dir lastet. Ich würde dich in der Trance begleiten. Du wärst nicht alleine, und ich kann dann auch sofort spüren, an welcher Stelle es zu viel für dich wird.«
»Kann es das?«, fragte Charlotta. »Kann es zu viel für mich werden?«
»Das kann unter Umständen passieren«, sagte er. Charlotta rechnete es ihm hoch an, dass er ehrlich war und damit riskierte, dass sie Angst bekam und ablehnte. »Aber meine Aufgabe ist es eigentlich, schon vorher zurückzukehren oder mit dir einen anderen Weg einzuschlagen. Ich möchte es auch aus dem Grund morgens schon machen, damit du am selben Tag noch wieder so klar bist, dass du darüber reden kannst. – Wenn du das willst. Sprich heute Abend noch mit Rob darüber, wenn du magst. Rob kennt mich, und er ist mit den Ritualen und der Trance vertraut. Er kann dir helfen, zu einer Entscheidung zu kommen.«
»Entscheidung wofür?«
»Für oder gegen die Zustimmung, mit mir gemeinsam auf eine Reise zu gehen.«
»Reise? Eine Trance-Reise?« Doch Drogen?
Der Schamane nickte und sah sie weiterhin freundlich an. Charlotta hatte noch unzählige Fragen dazu, aber sie befürchtete, dass der alte Mann sie für schrecklich dumm halten könnte. Aus demselben Grund aber war sie sich aber auch nicht sicher, ob sie mit Rob darüber reden mochte. Allerdings imponierte ihr auch hier, dass er sie offenbar nicht überrumpeln wollte. Wenn er sie sogar aufforderte, mit Rob darüber zu sprechen und erst dann zu entscheiden, ob sie sich darauf einlassen wollte …
Ein Geräusch hinter ihr unterbrach ihre Gedanken. Sie drehte sich um und sah, wie die Tür sich langsam öffnete. Ein Mann erschien in der Tür und sah den Pisap Inua fragend an. Der nickte und winkte den Mann heran.
Die Ähnlichkeit mit Rob war so frappierend, dass die beiden unbedingt Brüder sein mussten. Dann fiel ihr eine Bemerkung von Rob ein, sein Bruder sei auserwählt, der nächste Pisap Inua zu sein. Der Schamane erhob sich aus dem Sessel, und Charlotta tat es ihm nach.
»Ich möchte dir Marc vorstellen. Vielleicht weißt du, dass er Robs Bruder ist?«
»Und wenn ich es nicht wüsste, würde ich es sehen«, schmunzelte Charlotta. Sie erkannte das gleiche anziehende Gesicht und das charmante Lächeln. Die gleichen braunen Haare, allerdings hatte Marc ganz dunkle Augen. Als er auf sie zukam, um ihr die Hand zu schütteln, sah sie auch ihren ersten Eindruck bestätigt, dass er ein wenig kleiner war als Rob.
»Ich heiße dich willkommen«, sagte Marc herzlich. »Schön, dass du da bist.« Ein Satz, der ihr zeigte, dass sie sich willkommen fühlen durfte. Sie merkte, wie sehr sie sich darüber freute.
Charlotta registrierte, dass er kurz zum Tisch schaute, die Nasenflügel blähten sich und nach einem Augenblick zog ein Ausdruck des Erkennens über sein Gesicht. Er sah den Schamanen an und die beiden wechselten einen bedeutungsvollen Blick.
»Du weißt, was für Kräuter der Pisap Inua verbrennt?«, fragte sie direkt. »Und sagt dir das auch sofort etwas darüber, weshalb er das getan hat?«
Die Männer wechselten erneut einen Blick, diesmal schien er auf beiden Seiten ein wenig überrascht zu sein. »Du beobachtest gut«, sagte Marc anerkennend und nickte.
Marc begleitete sie zurück und Charlotta war ihm dankbar dafür. Sie wusste auch diesmal nicht, ob sie allein zu Robs Haus zurückfinden würde – dafür sahen die Häuser für sie alle zu ähnlich aus. Zwar liefen viele Leute herum oder saßen vor ihren Türen, um sie neugierig zu betrachten, aber sie war froh, niemanden nach dem Weg fragen zu müssen.
»Kannst du dir etwas darunter vorstellen, wie es ist, wenn man in Trance ist?«, fragte Marc und beantwortete ihren überraschten Blick mit einem Grinsen. »Du vergisst, dass ich im Grunde ein komplett ausgebildeter Schamane bin. Solange er lebt, unterstütze ich den Pisap Inua. Wenn er irgendwann stirbt, nehme ich seine Stelle ein.«
Charlotta erinnerte sich an Robs diesbezügliche Worte und nickte.
»Die Art der verwendeten Kräuter«, sprach Marc weiter, »sowohl in deinem Tee als auch die in der Schale, lassen für mich den Rückschluss zu, dass er das Gefühl hat, du brauchst etwas Unterstützung. Aus dem Grund gehe ich davon aus, dass er dir angeboten hat, dich in Trance zu versetzen und dich zu begleiten. Als ich vorhin in den Raum kam, habe ich deine Unsicherheit gespürt. Verständlicherweise kommt dir das hier alles befremdlich vor und ich kann verstehen, wenn du Bedenken hast. Vielleicht auch ein bisschen Angst. Und deshalb wollte ich wissen, ob du dir darunter überhaupt etwas vorstellen kannst.«
»Mhm … eigentlich nicht so recht«, gab Charlotta verlegen zu. »Ich stelle mir das so’n bisschen wie ’ne Hypnose oder so was vor.«
»Jaaa!«, sagte Marc gedehnt, »so ganz falsch ist das nicht. Nur, in der Trance begleitet er dich. Du wirst mehrere Menschen dort treffen, sie vielleicht beobachten oder mit ihnen sprechen. Es ist aber nicht so, dass du nur Dinge siehst, die tatsächlich so passiert sind. Es kann auch sein, dass du Dinge siehst, die erst noch passieren werden. Oder, dass du etwas siehst, was künftig deine Entscheidungen beeinflussen kann, damit das eben nicht passiert, wenn du …«
»Na, dann hatte ich das ja wohl doch schon mal, und da hat mich keiner vorher gefragt!«, unterbrach Charlotta ihn bitter und fügte wegen Marcs fragend hochgezogener Augenbraue hinzu: »Ich habe bis jetzt gedacht, das sei ein Traum gewesen. Ein Traum, in dem ich den Pisap Inua gesehen habe und Rob. Rob einmal als Mensch und einmal als Wolf. Ich vermute, sie wollten mir damit schon alles erklären. Aber ich war da wohl noch nicht so weit, das zu glauben.« Sie zögerte kurz. »Es ist ihnen damit zumindest gelungen, dass ich Rob von dem Tag an ein bisschen mehr Vertrauen entgegengebracht habe«, gab sie etwas widerwillig zu, denn die Methode fand sie weiterhin recht fragwürdig. »Danach hatte ich tatsächlich nicht mehr so viel Angst vor den Wölfen, die mir seitdem ständig in der Stadt begegnet sind. Na ja, Respekt schon, aber keine heillose Panik, wie bei den anderen Leuten im Ort.«
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