Ihr Blick fiel auf die Tür. Rob stand dort und beobachtete sie. »Ich hatte den Eindruck, es wäre gerade besser, euch nicht zu stören«, sagte er und kam zögernd näher.
Charlotta konnte seinen Gesichtsausdruck nicht recht einschätzen. Marc anscheinend schon. »Ich möchte dir zu deiner Freundin gratulieren. Wir sind gerade vom Pisap Inua zurück. Wir mussten Charlotta sagen, dass sie eigentlich noch nicht so weit ist, alles zu verstehen. Nicht zuletzt deshalb wollen wir sie auf eine fernast olos mitnehmen, eine Reise in Trance«, fügte er erklärend in Charlottas Richtung hinzu. »Ich habe gerade versucht«, wandte er sich nun wieder an seinen Bruder, »ihr ein wenig die Angst davor zu nehmen. Ich weiß nicht, inwieweit mir das gelungen ist, aber vielleicht hast du da ja mehr Erfolg.« Lächelnd sah er Rob an.
Dessen Blick fiel auf die junge Frau, und er grinste. »Das wird sowieso noch ’ne echte Aufgabe für euch, das sag’ ich dir. Charlotta ist eine Frau, die eigentlich nur das glaubt, was wissenschaftlich bewiesen werden kann.«
Marc zog eine Augenbraue hoch. »Und was ist mit dir und deiner Wandlung?«
Charlotta lachte. »Wenn ich hier nicht irgendeinem Trick aufgesessen bin, musste ich das glauben, als ich es gesehen habe.«
»Du hast direkt vor ihr deine Gestalt gewandelt?«
»Anders hatte ich keine Chance. Alle Erklärungen, alle Hinweise, die unser Schamane und ich ihr auch in dem Traum gegeben haben, sind an ihr abgeprallt. Du hörst es ja: ›Wenn ich hier nicht irgendeinem Trick aufgesessen bin …‹«
Charlotta warf Rob einen bösen Blick zu, wandte sich dann aber wieder an Marc. »Bist du … kannst du …«
»Ob ich auch ein Werwolf bin? Ja, das bin ich!« Er wartete einen Augenblick, doch als Charlotta schwieg, erhob er sich. »Bitte sprecht auch noch mal darüber«, bat er seinen Bruder und wechselte einen eindringlichen Blick mit ihm. »Wenn Charlotta mit dir hier leben soll, auf Dauer, meine ich, muss sie alles über sich erfahren. Sie hat eine Gabe. Der Pisap Inua und ich kommen aber beide nicht drauf, was es sein könnte, weil ihre innere Spannung zu groß ist. Wenn sie die nicht rauslässt, wird sie nicht nur sich selbst gegen andere abschirmen, sondern auch andere gegen sich. Sie kann ja nicht mal richtig atmen.«
Er sah ernst aus und warf Rob einen bedeutungsvollen Blick zu. Dann lächelte er wieder. »Wir sehen uns morgen?«, fragte er Charlotta und die nickte zaghaft.
Sie kann ja nicht mal richtig atmen , hörte sie Marcs Stimme sagen und verzog das Gesicht.
»Wir werden heute Abend feiern«, verkündete Rob.
»Was feiert ihr denn?«
»Muss es einen Anlass geben?«, erkundigte Rob sich und lächelte. »In diesem Fall gibt es aber einen: Dich!«
»Was? Wieso?« Entsetzt starrte sie ihn an.
»Es freuen sich alle, dass du hier bist. Sie wollen dich kennenlernen, denn wir leben hier eng zusammen, und da muss die Chemie passen.«
Charlotta riss die Augen auf. »Und wenn jetzt ganz viele Leute feststellen, dass sie mich überhaupt nicht leiden können? Dann muss ich gehen? Oder ich darf nicht mehr aus dem Haus? Oder was passiert dann?«
»Nein!« Rob lachte. »Es ist nur so, dass hier nicht einfach jemand herkommt und nach einem Jahr dann langsam mal alle Leute einmal gesehen hat. Wir machen viel gemeinsam und sind auch aufeinander angewiesen. Da ist es wichtig, dass du von Anfang an mit dabei bist.«
»Ich mag aber nicht so im Mittelpunkt stehen«, sagte Charlotta kläglich.
»Ach Lotta, das tust du doch jetzt schon. Alle sind ganz neugierig und versuchen einen Blick auf dich zu erhaschen. Es gibt vermutlich kaum eine Minute, in der uns nicht irgendwer beobachtet.«
Entsetzt sah Charlotta ihn an. »Du meinst … auch heute Mittag, da am Fluss, als wir …«
Rob grinste, rief sich dann aber wieder in Erinnerung, dass er sich vorgenommen hatte, sie nicht ständig gezielt in Verlegenheit zu bringen. »Nein, da dürften wir allein gewesen sein. Wir waren ja erst in der Höhle«, bemühte er sich um eine plausible Erklärung, weil sein Gegenüber nicht so recht überzeugt schien, »und da setzt sich niemand hin und wartet, bis wir wieder rauskommen um dann noch hinter uns herzulaufen. Jeder, der dich sehen will, bekommt im Dorf auch die Gelegenheit. Und deshalb veranstalten wir heute Abend das Treffen in großer Runde. Es sind extra noch alle einkaufen gewesen und freuen sich, mal wieder einen Grund für ein Fest zu haben.«
»Duu … Sag maaal«, wechselte sie das Thema, »wann kann ich denn noch mal wieder zurück nach Hause? Du hast mich so abrupt aus meinem Leben herausgerissen, dass es für mich gar keine Möglichkeit gab, darüber nachzudenken. Vielleicht möchte ich ja weiterarbeiten, vielleicht möchte ich mich ja weiterhin mit meinen Freundinnen bei Henry treffen. Vielleicht …«
»Wie wichtig ist dir das?«, wollte Rob wissen. Ihm war von Anfang an klar gewesen, dass Charlotta das fordern würde. Allerdings hatte er gehofft, sie würde noch ein bisschen länger damit warten.
»Ziemlich!«, gestand sie. »Ich möchte selber entscheiden, wann ich meinen Job aufgebe und nicht rausgeworfen werden, weil ich nicht zum Dienst erscheine. Ich möchte mich – das gilt allerdings auch für die Zukunft – unbedingt auch weiter mit meinen Freundinnen treffen. An der Wohnung, das gebe ich zu, hänge ich nicht sonderlich. Aber ich müsste noch einige Sachen da rausholen, wenn es wirklich irgendwann dazu kommt, dass ich vielleicht nicht mehr in der Stadt wohne.«
»Wenn ich das jetzt richtig verstehe, ist für dich aber klar, dass du hierher zu mir ziehst?«, erkundigte Rob sich vorsichtig.
»Ich denke schon. Nur noch nicht unbedingt jetzt und heute. Vielleicht kann ich ja wenigstens auch mal telefonieren, damit die im Krankenhaus …«
»Du kannst hier nicht telefonieren.«
»Was? Wieso denn nicht?«
»Weil wir hier keine Telefone haben.«
»Ihr … Quatsch, jetzt willst du mich verarschen!«
»Dieses Dorf existiert vermutlich auf keiner Karte«, erklärte Rob. »Kein Telefonanbieter würde bei der Entfernung zur nächsten Stadt Leitungen hierher legen. Und für Handys sind wir hier viel zu weit weg vom nächsten Funkmasten.«
»Das mit den Handys leuchtet mir ein, das hat man ja schon, wenn man nur weit genug in den Wald läuft. Aber … wieso findet man euch auf keiner Karte? Wie weit weg ist ›weit weg‹? So weit kann’s doch nicht sein. Ich meine, du bist immer mal wieder in der Stadt aufgetaucht. Und du hast gesagt, alle waren heute einkaufen … und … wie lange warst du denn mit mir unterwegs hierher? Mehrere Tage?« Charlotta sah ihn entsetzt an.
»Nicht lange«, Rob grinste schief. »Ich bin schnell.«
Sie erinnerte sich, dass ihr schon mehrfach aufgefallen war, wie schnell Rob sein konnte. Das erste Mal, als sie sich im O’Learys bei Henry treffen wollten und er mit ihr gemeinsam dort angekommen war, obwohl sie mit dem Auto fahren konnte und er laufen musste. Und auch an diesem Nachmittag, als er sie in sein Schlafzimmer gebracht hatte. Charlotta kniff die Augen zusammen. »Du hast mich doch nicht hierher getragen!?«
»Doooch!« Er konnte nicht anders, er weidete sich an ihrem Entsetzen. »Als Wolf bin ich noch schneller, doch da konnte ich dich nicht mitnehmen«, setzte er hinzu, als würde das für sie mehr erklären.
»Aber ich bin nicht gerade ein Leichtgewicht«, murmelte sie und betrachtete ausgiebig ihre Schuhe.
Rob lachte leise. »Ich bin nicht nur schnell, ich bin auch ziemlich kräftig.«
»Wie lange würde ich denn brauchen, bis ich zu Hause bin?«, erkundigte Charlotta sich hartnäckig.
Seufzend zuckte Rob mit den Achseln. »Wenn du in normalem Spazier- gängertempo gehst und keine einzige Pause machst, vorausgesetzt du weißt, wo du hinmusst und verläufst dich nicht … ich schätze, so ’ne knappe Woche wäre es wohl.«
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