Mutter selber hatte schon früh die Vorteile des Kapitalismus erkannt und war sich trotz der üppigen Rente des Ehemannes nicht zu schade gewesen, das Familieneinkommen durch diverse nie versteuerte Jobs zu erhöhen. Als sie den in einer Zeitung annoncierten Job bei Schneider tatsächlich bekommen hatte, hatte es ihr zu Beginn den Atem verschlagen. Wenig später hatte ganz Dorsten erfahren, dass sie als Haushälterin bei dem Millionär arbeitete.
Für die Polizei gab es hier Fragen, die mit dem Mord zusammenhingen, schon sehr bald nicht mehr.
Das war bei der anderen ständigen Kontaktperson des Ermordeten allerdings nicht der Fall. Dabei handelte es sich um den einzigen Sohn vom Nachbarhof. Karl, so hieß der arme Kerl, war mehr oder weniger geistig behindert, und setzte somit eine uralte westfälische Tradition fort, der zufolge der Älteste Pastor, der zweite Lehrer, der Dämlichste Arzt und irgendeiner der Spökenkieker werden musste. Da auch im katholischen Münsterland die Antibabypille mittlerweile ihre verheerende Wirkung entfaltet hatte, waren der Pastor, der Lehrer und sogar der Arzt ausgefallen, und nur Karl war zur Welt gekommen. Als geistig Behinderter kam Karl natürlich sofort in das Fadenkreuz der Untersuchungen; dennoch war in diesem Fall nicht einmal einem Gärtner etwas anzuhängen, an dem sogar eine Annette von Droste-Hülshoff ihr Vergnügen gehabt hätte.
Ansonsten war sehr schnell klar, dass das Opfer so offensichtlich gar kein Bedürfnis nach sozialen Kontakten gehabt hatte, dass es bei den Menschen in einer ländlichen Gegend wie dieser aber sehr wohl bekannt war, dass sich dort ein steinreicher Unternehmer in ihrer Mitte niedergelassen hatte. Er wollte zwar niemanden kennen, aber natürlich wusste man, wer er war. Die Zahl möglicher Täter und Motive explodierte.
Denn schließlich war dieser Mann nicht irgendwer.
Konrad Schneider kannte man im Ruhrgebiet. In allen Städten dieser Region trug zumindest jede zweite Bäckerei seinen Namen.
Dieser Mann war zunächst Arbeiter in einem Stahl produzierenden Betrieb in Duisburg gewesen. 1988 war dieser Betrieb geschlossen worden und Schneider war arbeitslos geworden. Damals war er 56 Jahre alt gewesen und somit in dem von der Gewerkschaft erarbeiteten Sozialplan nicht berücksichtigt worden. Mit 57 Jahren hätte er in die Frührente gehen können.
Der Mann war aber nicht in Rente gegangen.
Zum Arbeitsamt auch nicht.
Mit der nicht unerheblichen Abfindung, die ihm auf Grund seiner mehr als 35 Jahre Arbeit in diesem Betrieb gezahlt worden waren, hatte er sich einen Kindheitstraum verwirklicht: Er hatte immer schon Bäcker werden wollen.
Bei der Verwirklichung dieses Traumes war er sehr schnell an die Grenzen seiner Träume gekommen: In Deutschland gab es schließlich eine völlig überflüssige Handwerksordnung, und selbst wenn man nur kleine Brötchen backen wollte, brauchte man dafür einen Meisterbrief. Da er nicht im Besitz eines solchen war, hatte Schneider schnell einen Kompagnon gefunden, mit dessen Meisterbrief der erste Laden eröffnet werden konnte. Diesen Mann hatte Schneider finanziell über den Tisch gezogen, ein Verhalten, das er beim Aufbau seines Backimperiums ganz offensichtlich nicht zum letzten Mal gezeigt hatte. Sein Weg zum Millionär war gepflastert mit vielen Bankrotteuren, die Schneiders gnadenloses Geschäftsgebaren ruiniert hatte. Feinde, das war der Polizei sehr schnell klar, hatte dieser Mann mehr als genug gehabt, und so war es mehr als verständlich, dass sich die Untersuchungen schließlich vor allem auf das geschäftliche Umfeld des Opfers konzentrierten.
Von Erfolg waren diese Bemühungen allerdings allesamt nicht gekrönt. Und hatte der Mord zunächst auch überregional für Aufsehen gesorgt, so war das öffentliche Interesse daran auch schnell wieder verflogen.
Fast anderthalb Jahre nach dem Mord sorgte der Fall noch einmal für landesweites Aufsehen, wurde er doch in der Fernsehsendung „Aktenzeichen XY“ behandelt. Die Polizei war inzwischen davon überzeugt, dass der Mörder im geschäftlichen Umfeld des Opfers zu suchen war, und fragte deshalb nach dem Verbleib einer Person, die ebenfalls von dem Opfer um die Existenz gebracht worden und mittlerweile von der Bildfläche verschwunden war.
Zunächst war man bei der Mordkommission in Recklinghausen optimistisch, weil die Zahl der eingegangenen Hinweise außergewöhnlich hoch war. Aber schon bald wurde deutlich, dass keiner dieser Hinweise etwas brachte und schon gar nicht das war, was man eine heiße Spur nannte.
In den folgenden Jahren nahm nicht nur das Interesse der Öffentlichkeit rapide ab. Ein Beamter nach dem anderen wurde zur Bearbeitung anderer Fälle aus dem Untersuchungsteam abgezogen, und spätestens zu Beginn des Jahres 2003 drohte der Fall Schneider zu dem zu werden, was man einen cold case nannte: ein Fall, den man nicht lösen konnte und deshalb schon ad acta gelegt hatte.
Das große Anwesen war mittlerweile längst verkauft worden. Es hatte einen Preis erzielt, der die einzige Erbin, die Tochter des Ermordeten, wütend machte, lag dieser Preis doch nur geringfügig über dem, den der Vater vor sieben Jahren für einen ziemlich heruntergekommenen Bauernhof irgendwo in the middle of nowhere gezahlt hatte. Im gesamten Ruhrgebiet waren die Immobilienpreise im Keller: In allen Städten verzeichnete man hohe Abwanderungsquoten, weil man das Sterben der ursprünglichen Industrien Kohle und Stahl und den Aufbau neuer Strukturen viel zu lang hinausgezögert hatte.
Blieb noch ein kleines Problem: das weiße Pony.
Die Haushaltshilfe des Ermordeten erklärte sich auf Bitten der Tochter des Opfers bereit, eine Annonce in die Zeitung zu setzen. Der Tochter war es völlig gleichgültig, ob mit diesem Tier noch irgendein Gewinn zu erzielen war.
Der Haushaltshilfe nicht.
Zum Ende des Jahres 2000 gab es für lebende Ponys ganz offensichtlich keinen Markt; den höchsten Preis zahlte nämlich schließlich ein Schlachter.
Irgendjemand kam dem Schlachter aber zuvor und schnitt dem alleine auf weiter Flur grasenden Pony eines Nachts kurzerhand die Kehle durch. Am Morgen lag das Tier mit sauber durchtrenntem und ausgeblutetem Hals auf dem Rasen. Ein einsamer Spaziergänger hatte es gefunden.
Zunächst hatte sich dieses Ereignis aufgrund der nach kurzer Zeit bereits in der gesamten Umgebung kolportierten Berichte der herbeigeeilten Polizeibeamten wie eine Sensation angehört; bereits am nächsten Tag war es in der polizeilichen Routine herabgestuft worden auf das, was es rein juristisch war: Sachbeschädigung.
Im September 2000 hatte die Kripo von Essen viel Wichtigeres zu tun: Am Morgen des 3. September hatte eine allein erziehende Mutter aus dem Stadtteil Stoppenberg im Essener Norden bei der dortigen Polizei eine Vermisstenanzeige aufgegeben. Ihre fünfjährige Tochter hatte morgens nicht in ihrem Kinderbett gelegen. Ihre eigenen Recherchen bei Verwandten und Bekannten hatten allesamt das gleiche Ergebnis gebracht: das Kind war verschwunden.
Rein statistisch werden in der Bundesrepublik jedes Jahr fast 40000 Kinder als vermisst gemeldet. Die meisten dieser Kinder tauchen Gottseidank schnell wieder auf; aber eben nicht alle: Fast 1000 Kinder gelten nach Angaben des Bundeskriminalamtes als dauervermisst.
Mit jedem Tag, der nach dem Verschwinden verstreicht, erhöht sich die Wahrscheinlichkeit von zwei grauenhaften Szenarien: zum einen, dass das Kind nie mehr auftaucht, zum anderen, dass es Opfer einer Sexualstraftat geworden ist.
17.3.2001
Die Chance, dass ein Mann irgendwo auf der Welt und irgendwann in seinem Leben einmal in einem Sportverein Fußball gespielt hat, muss bei über 50 Prozent liegen.
Die Chance, dass ein Mann schwul ist, liegt überall auf der Welt bei ungefähr 5 Prozent. Die Chance, dass ein schwuler Mann zu seinem Schwulsein auch steht, dürfte wesentlich geringer sein, hängt diese Sache doch ab von der Bildung und dem Grad an Zivilisation, über den die Gesellschaft verfügt, in der er lebt.
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