Und sie hatten sich diesen ehemaligen Bauernhof in der Nähe von Raesfeld, einem kleinen Ort im Münsterland am Rande des Ruhrgebiets, allemal leisten können. Eigentlich ist es Feigheit vor dem Feind, hatte seine Frau damals gesagt, und sie hatten darüber gelacht. Mittlerweile lachte er darüber schon lange nicht mehr.
Eines Nachmittags waren sie einfach rausgefahren, hatten kurz vor Raesfeld die stark befahrene B224 verlassen und waren nach ein paar Kilometern vor dem damals schon leerstehenden Gehöft gelandet. In the middle of nowhere, das hatte er damals bereits gesagt, die nächste menschliche Behausung war schließlich über einen Kilometer entfernt; aber der Hof hatte ihnen beiden gefallen, war so etwas wie Liebe auf den ersten Blick gewesen, und so hatten sie, ohne lange zu überlegen, das Haus mit einem großen Stück Land gekauft.
Allein der Umbau hatte ein Vermögen gekostet, Geld, das sie aber hatten. Das er auch jetzt noch hatte. Viel mehr, als er in der noch verbleibenden Zeit seines Lebens je würde verbrauchen können.
Das war nicht immer so gewesen: aus einer kleinen Bäckerei hatten sie im Laufe von weniger als zehn Jahren eine ganze Kette von Läden in mehreren Städten des Ruhrgebiets aufgebaut, hatten Tag und Nacht geschuftet, um weitere Filialen zu eröffnen und noch mehr Geld anzuhäufen. Nur hatten sie nie die Zeit gehabt, das viele Geld auch auszugeben.
Und dann war es ihm als eine grauenhafte Absurdität vorgekommen, dass seine Frau nur drei Monate nach Fertigstellung dieses großen Anwesens und dem Umzug aufs Land gestorben war und die einzige Tochter erklärt hatte, sie werde nicht mit ihnen dort wohnen; sie wolle lieber eine Wohnung in Bochum haben, wo sie damals studierte. Mittlerweile hatte sie geheiratet und wohnte in der Nähe von Hamburg. Das einzige Enkelkind, ein mittlerweile fünfjähriges Mädchen, hatte seine Frau nicht mehr gesehen; er selber hatte die Kleine außer bei der Taufe aber auch nur noch vier Mal gesehen. Zumeist hatte die Tochter mit ihrem Mann irgendwelche Bekannte im Ruhrgebiet oder die Familie des Schwiegersohnes besucht, und die beiden hatten nicht mehr als einen kurzen Zwischenstopp bei ihm eingelegt. Obschon seine Tochter ihn bei ihren gelegentlichen Telefonaten schon mehrfach eingeladen hatte, war er nie nach Hamburg gefahren: als mittlerweile Sechsundsiebzigjähriger wollte er nicht mehr seine Tochter und deren Familie besuchen. Er wäre sich vorgekommen wie ein Bittsteller, wie ein zufälliger Bekannter, den man nur deshalb im Haus duldete, weil es die Höflichkeit verbot ihm zu sagen, dass er störte.
Es war Samstag, der 23.9.2000.
Den ganzen Tag hatte die Sonne geschienen, es war ein herrlicher Tag gewesen, vielleicht sogar schon zu warm, ein wenig drückend auf jeden Fall, so dass mit einem Gewitter gerechnet werden musste. Und gerade diese schönen Tage empfand er als besonders unerträglich, weil ihn solche Tage nach seinem Dafürhalten geradezu aufforderten, irgendetwas Sinnvolles zu tun, irgendeine hier und jetzt gegebene Möglichkeit zu nutzen, das Leben eines sehr reichen Mannes einfach zu genießen. Die Tage mit scheußlichem Wetter gaben zumindest Anlass, sich zu ärgern, mit anderen über irgendein Sauwetter zu reden; die schönen Tage machten nur deutlich, dass man mit sich selber nichts mehr anzufangen wusste. Er wusste immer weniger, wie er die Zeit vom Aufstehen bis zum Einschlafen verbringen sollte, eine Zeitspanne, die zudem auch noch immer länger wurde, weil er abends nicht einschlafen konnte und morgens selbst im Sommer zumeist noch vor dem Sonnenaufgang aufstand. Vielleicht, hatte er oft gedacht, war es die schlimmste Geißel des Alters, insgesamt immer müder zu werden, ohne noch schlafen zu können.
Dreimal in der Woche kam eine Frau aus Dorsten, einer Stadt am nördlichen Rand des Ruhrgebiets, und brachte das Haus in Ordnung, kochte für ihn, kaufte ein und erledigte überhaupt alle Besorgungen, um die er sie bat. Alle 14 Tage kam ein junger Mann aus der Nachbarschaft und brachte den Garten in Ordnung. An allen anderen Tagen kam niemand, und es passierte an diesen Tagen sehr häufig, dass er den gesamten, immer unendlicher werdenden Tag lang mit keinem Menschen auch nur ein Wort wechselte. Wieso ziehst du nicht wieder in die Stadt?, hatte ihn die Tochter schon mehrfach gefragt. Oder in unsere Nähe? Und dann hatte er jedes Mal ganz entrüstet geantwortet, dass er sich hier wohlfühle wie die Made im Speck, weil er insgeheim davon überzeugt war, dass sie ihn in irgendein Altersheim stecken wollte. Natürlich in das teuerste und beste, das es gab, aber auf jeden Fall in ein Altersheim. Dort, das wusste er, würde er verrückt werden.
Außerdem hatte sich in den letzten drei Monaten zumindest ein ganz klein Wenig verändert. In den letzten drei Monaten war schon zum wiederholten Mal etwas passiert, das ihn zumindest für eine kurze Zeit seine Langeweile hatte vergessen lassen.
Beim ersten Mal hatte er fürchterliche Angst gehabt. Er hatte seinen Augen nicht getraut und gewusst, dass er den Vorfall eigentlich bei der Polizei hätte melden sollen. Aber bereits nach ein paar Tagen war er froh darüber gewesen, nicht zur Polizei gegangen zu sein, überhaupt mit niemandem über diesen Vorfall gesprochen zu haben. Es war ihm selber so vorgekommen, als habe er nur so sicherstellen können, ganz allein einem unerhörten Geheimnis auf die Spur zu kommen.
Und dann war es tatsächlich wieder passiert. Nur ein oder zwei Wochen später, das wusste er nicht mehr, und plötzlich schoss es ihm durch den Kopf, dass es ein Fehler war, über diese Vorkommnisse nicht genau Buch geführt zu haben.
Die große Stehuhr im Wohnzimmer schlug elf. Für einen Augenblick dachte er daran, das Licht im Wohnzimmer auszuschalten; dann erschien ihm der Zeitpunkt noch viel zu früh. Wenn es heute passieren sollte, würde es noch Stunden dauern, das wusste er.
Schon oft war ihm die ungeheure Ruhe aufgefallen, die hier ringsum herrschte. Vor allem als sie gerade hier eingezogen waren, hatte er es nicht für möglich gehalten, dass es eine solche Ruhe überhaupt gab.
Und gerade diese Ruhe war es gewesen, die ihm Angst bereitet hatte, als es zum zweiten Mal passiert war. Niemand würde seinen Hilferuf hören, wenn ihm etwas zustoßen sollte, das war ihm schlagartig klar gewesen, und er hatte hinter der Gardine gestanden und war davon überzeugt gewesen, dass selbst draußen noch sein Atem und sein schneller Herzschlag zu hören waren.
Zuvor hatte ihm die Abgeschiedenheit des Hofes noch nie Angst bereitet. Schon mehrfach hatte die Tochter ihn gefragt, ob er nicht Angst davor habe, ganz allein dort zu wohnen, und jedes Mal hatte er ihr wahrheitsgemäß gesagt, dass er keine Angst habe. Das Haus war schließlich mit teuren Sicherheitsvorkehrungen und einer aufwendigen Alarmanlage ausgestattet. Er hatte nie Angst gehabt. Bis vor ein paar Wochen. Aber das war eine Angst, die man sich mit Alarmanlagen nicht vom Halse schaffen konnte.
Gegen kurz vor zwölf schaltete er das Licht im Wohnzimmer aus.
Noch als es zum dritten Mal passiert war, es musste vor zwei oder drei Wochen gewesen sein, hatte er nur gewagt, die Szene vom Fenster seines Schlafzimmers im ersten Stock zu beobachten. Nun ging er langsam durch den dunklen Flur und öffnete die Tür zur Tenne, die sie damals umgebaut hatten zu einem viel zu großen Partyraum, in dem noch niemals eine Party stattgefunden hatte. Neben dem großen Tor war ein Fenster, von dem aus man die beste Aussicht auf die kleine Weide hatte.
Als ihm seine fast krampfhaften Bemühungen bewusst wurden, in der Dunkelheit jedes auch noch so geringe Geräusch zu vermeiden, musste er vor sich selber zugeben, was er natürlich schon längst wusste: Er wollte, dass es wieder passierte. Bereits vor ein paar Tagen hatte er sich gesagt, dass er schließlich nicht der Gejagte war: Er war der Jäger. Und je mehr er sich in diese Bildlichkeit verstiegen hatte, desto nachdrücklicher waren alle Reste der Angst einem Gefühl gewichen, das er nun als das bezeichnen konnte, was es war: Jagdfieber.
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