Am darauffolgenden Tag präsentierte ich den Ball in der Schule meinen Freunden Gerd und Bernd. Sie platzten vor Neid und Bewunderung. Wir bolzten in der Pause und nach Schulschluss auf unserer Gemeinschaftswiese. Der Ball war hart, sehr hart! Es tat mächtig weh, wenn man ihn gegen den Oberschenkel oder ins Gesicht bekam, aber man konnte ihn präzise schießen. Das galt auch für Kopfbälle: Sie zerrten ordentlich an den Haarwurzeln, aber der Ball flog dahin, wohin man ihn haben wollte. Bernd war bis dahin der Einzige in unserer Siedlung gewesen, der einen Lederball besessen hatte – zwar alt und zerschlissen, aber ein echter Lederball! Mein Ball machte mich nun zum unverzichtbaren Mitglied der fußballverrückten Jungsgang unserer Siedlung. Alle möglichen Schüler meiner Schule und auch viele Kinder, die zuvor mit mir nichts am Hut gehabt hatten, fragten nun bei mir an, ob sie mitspielen dürften. Ich hatte mich am letzten Schultag vor den Frühjahrsferien mit meinen Freunden verabredet, um unter verschärften Wettbewerbsbedingungen das Spiel unseres Lebens zu bestreiten. Einwürfe, Ecken, Pässe, Flanken, Volleyschüsse, Freistöße, Elfer – es war herrlich. Wir hatten schon eine knappe Stunde gespielt, als Bernd und ich uns bei einer 8:4-Führung seines Teams einen Pressschlag kurz vor dem Tor lieferten. Mein Ball verschwand in einer bogenförmigen Flugbahn hinter der rund zwei Meter hohen Thujahecke und landete auf Schweinebauchs Terrasse, begleitet von klirrenden und klappernden Geräuschen.
Scheiße!
Der Garten des Reihenendhauses der Familie Schweinebauch-Kalkeimer war einer der wenigen, der keine Pforte zur Wiese besaß. Es gab auch keinen Zugang vom Nachbargrundstück aus. Nur diese Scheiß-Thujahecke, die gab es!
»Oh, nein! Das gibt Ärger!«, sprach Gerd aus, was wir anderen dachten.
Wir pirschten uns an den Jägerzaun und versuchten, durch die Hecke den Ball zu erspähen. Keine Chance! Bernd kletterte über den Zaun des Ewig-in-Italien-Urlaub-Lehrer-Reihenhauses und versuchte, von dort etwas zu erkennen.
»Er liegt direkt an seiner Terrasse!«, berichtete er, als er zur Wiese zurückkam. »Aber die Terrassentür ist auf!«
»Konntest du sehen, was kaputtgegangen ist?«, fragte ich, obwohl ich es lieber nicht wissen wollte.
»Ne, nicht so richtig! Ich glaub, Besteck und ’ne Tasse oder ’nen Teller lagen auf der Terrasse.«
»Ich geh bestimmt nicht klingeln!«, stellte Gerd klar, ohne dass ihn jemand zum Gehen aufgefordert hatte.
Ich musste meinen Ball zurückhaben. Aber klingeln wollte ich auch nicht. Schon gar nicht allein! Aber durch die Hecke kamen wir auch nicht weiter! Und wenn doch, würde es wohl richtig Ärger geben!
»Ich komm mit dir!«, sagte Jörg in meine Richtung.
»Echt?«
»Klaro! Zu zweit ist besser!«
Das machte Mut! Wir flitzten die Gemeinschaftswiese herunter in Richtung Nebenstraße, dann rechts ab bis zum Beginn der Reihenhauszeile, wieder rechts, die ganze Zeile zurück bis zum Ende. Auch von vorn war kein Durchkommen aufs Grundstück möglich: wieder eine zwei Meter hohe Hecke und zudem ein ebenso hohes verzinktes und verschlossenes Gartentor. Also klingelte ich mit klopfendem Herz. Nach einer Weile öffnete sich die Haustür und der grimmig dreinblickende, mit Turnhose und Unterhemd bekleidete kalkweiße Mann kam zum Vorschein.
»Entschuldigung!«, stammelte ich. »Mein Ball ist in Ihren Garten geflogen und ich …«
»Pech! Zieht Leine!«, raunzte Schweinebauch mich an.
»Aber wir …«, begann ich, als er mich erneut zurechtwies.
»Haut ab und klingelt hier nie wieder! Verstanden?« Er schlug die Haustür zu.
Entmutigt zogen wir von dannen.
»Die Sau rückt den Ball nicht raus!«, erklärte ich den anderen auf der Wiese.
»Der ließ uns nicht mal zu Wort kommen! Hat uns nur weggejagt!«, ergänzte Jörg.
»Der kann doch nicht einfach die Pille behalten!«, quiekte Gerd empört.
»Wir können die Polente rufen, ihn anzeigen!«, schlug Bernd vor.
»Meinem Vater Bescheid sagen!«
»Meinen großen Bruder und seine Freunde holen!«
»Seine Scheiben einschmeißen!«
»Seine Hecke anzünden!«
An Ideen mangelte es uns nicht. Bedrückt saßen wir im Gras vor der Thujahecke. Ich wollte nur meinen Lederball zurückhaben. Warum musste der Schweinebauch auch immer Theater machen?
»Hey, Jungs! Alles roger?«, fragte Holger, der gerade mit drei Freunden über unsere Wiese auf uns zukam.
Wir beschrieben den großen Jungs unser Problem.
»Gibt ’s ja nicht!«, kommentierte einer aus der Gruppe unseren Bericht ungläubig.
»Und dann jagt mich der Arsch auch noch weg!«, gab ich den Tränen nahe obendrauf.
Holger dachte eine Weile nach und sagte dann: »Gut, wir gehen da jetzt alle gemeinsam hin!«
»Der hat gesagt, ich soll nie wieder bei ihm klingeln!«, brachte ich vor.
»Brauchst du auch nicht! Mach ich!«, sagte Holger grinsend. »Los jetzt!«
Wir 16 Mann – na ja, Männlein – setzten uns in Bewegung. Mir war mulmig zumute. Eine mit Einkäufen bepackte, blonde Frau stand vor der Tür zu Schweinebauchs Nachbarhaus und betrachtete unseren Aufmarsch mit hochgezogenen Augenbrauen und offenem Mund. Holger drückte auf Schweinebauchs Klingelknopf. Seine drei Freunde standen hinter ihm auf den Stufen zum Eingang. Wir anderen blieben auf dem Plattenweg dahinter.
Der bleiche, dicke Mann öffnete. »Haut ab!«, schrie er sofort.
Seine blonde Nachbarin starrte nun neugierig zu Schweinebauch.
»Geben Sie unseren Ball wieder raus!«, sagte Holger ruhig, aber bestimmt. »Sonst rufen wir die Polizei!«
»Du Wicht«, brüllte Schweinebauch. »Willst du mir drohen? Ihr zerschießt unser Geschirr und du Würstchen willst mir drohen?« Er grinste Holger überlegen an und ging einen Schritt auf ihn zu. »Dich zermalm ich wie ’ne Wurst!«
Wir anderen standen mucksmäuschenstill hinter Holger und seinen Freunden. Ich hatte Schiss, dass Schweinebauch zulangen könnte. Scheiße! Geschirr zerschossen! Holger wich keinen Deut zurück und sagte mit fester Stimme: »Dann haben Sie schon die zweite Anzeige an der Backe!«
Schweinebauch verzog sein Gesicht, ging wieder einen Schritt zurück und drohte: »Bursche! Zieht Leine, sonst kracht ’s!«
Er wollte gerade seine Haustür schließen, als Holger nachsetzte: »Entweder Sie lassen uns unseren Ball holen oder Sie werfen ihn selber zurück auf die Wiese. In zehn Minuten rufen wir die Polente!«
»Zieht ab!«, brüllte Schweinbauch erneut, bevor seine Haustür ins Schloss krachte.
Wir atmeten hörbar aus und schlugen langsam den Rückweg ein.
»Mutig, mutig, junger Mann!« Die blonde Nachbarin nickte Holger grinsend zu und schloss ihre Haustür auf. »Mutig, mutig!«
»Du bist echt supermutig!«, bewunderte auch ich Holger, als wir uns wieder ins Gras der Wiese nahe der Thujahecke gesetzt hatten. »Hätt ich mich nicht getraut!«
»Sah nur so aus!«, schwächte Holger ab. »Hatte die Hosen ganz schön voll. Vor allem als er auf mich zukam. Ich dachte, der scheuert mir gleich eine!«
»Ich auch!«, bestätigte ich.
Bernd sah auf seine Armbanduhr: »Noch vier Minuten!«
»Du hast die Zeit genommen?«, stellte Holger belustigt und erstaunt fest. »In dieser Situation? Ist ja gediegen!«
»Klaro! Muss doch wissen, wann die zehn Minuten rum sind!«
»Was machen wir, wenn er den Ball nicht zurückgibt?«, fragte ich unsicher.
»Dann holen wir die Polente, logo!« Holgers Anweisung war klar.
Ein mehrmaliges Zischen drang durch die Thujahecke. Kurz darauf flog ein Schatten über unsere Köpfe hinweg und schlug wenige Meter entfernt dumpf auf der Wiese auf. Mein Ball! Platt wie eine Flunder! Ich stürzte zu ihm.
»Die Sau hat ihn zerstochen!«, schluchzte ich, begleitet von einem Tränenschwall.
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